Flüchtlinge und Vertriebene

Wohnungselend der Nachkriegszeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt Neustadt durch den Zuzug von Vertriebenen und Flüchtlingen den größten Wandel seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Er war die Folge des von Nazi-Deutschland begonnenen Eroberungskrieges und insbesondere auch der brutalen Unterdrückungs- und Vernichtungsmethoden in den besetzten Gebieten. Zu den schon bis 1944 in Niedersachsen evakuierten 602000 Menschen kamen zwischen 1945 und 1949 noch einmal 650 000 bis 700 000 hinzu.1) Unmittelbar nach Kriegsende musste auch eine hohe Zahl von „Displaced Persons“, meist ehemalige Zwangsarbeiter, vorübergehend untergebracht werden und gleichzeitig Lager für deutsche Kriegsgefangene, von denen es allein in der Provinz Hannover 136.637 gab, eingerichtet werden.
Die britische Besatzungsmacht verschärfte die Wohnraumsituation zusätzlich, indem sie 1945 die Landwehr und die Villen an der Wunstorfer Straße evakuieren ließ und die Stockhausenschule belegte. Mit Eintreffen der nach dem Potsdamer Abkommen 1946 überwiegend aus Polen Vertriebenen ließ sich dieses nicht mehr aufrecht erhalten. Der vorhandene Wohnraum reichte nicht aus.
Nach der Freigabe der Stockhausenschule durch die britische Besatzungsmacht im Jahr 1946, wies die Verwaltung viele Vertriebene zunächst in die Alte Schule in der Schulstraße ( heute An der Liebfrauenkirche ) ein, bevor sie in Privatwohnungen eingewiesen wurden. Durch das Amtsblatt ließ Oberkreisdirektor Raake am 07. Juni 1946 verkünden, dass die Verteilung der Vertriebenen auf alle Häuser gleichmäßig durchzuführen sei. Den Einheimischen stehe, je nach Alter, nur eine gewisse, vorgeschriebene Anzahl von Quadratmetern zur Verfügung: Erwachsene konnten vier, Kinder von eins bis vierzehn Jahren zwei Quadratmeter beanspruchen. Bei den folgenden Zwangseinweisungen kam es häufig zu Auseinandersetzungen mit den Flüchtlings- und Wohnungsämtern, die zum Teil dokumentiert, aber noch nicht ausgewertet sind. Die Lebensumstände dieser „Zwangswohngemeinschaften“ sind erst recht noch weitgehend im Dunkeln.

„In Neustadt wurde im Juni 1945 ein Bevölkerungszuwachs von 41% der Zahl von 1939 gemessen, die Bevölkerung bestand zu 47% aus Flüchtlingen, Vertriebenen, Evakuierten. Im Juli 1946 war die Bevölkerung des Kreises Neustadt von 37.873 ( 1939 ) auf gut 70.000 angewachsen. Und die Zahl stieg weiter.“2)Dies veranlasste den Kreistag am 12.Juli zu der folgenden Resolution an die britische Militärregierung:

„Die Zahl und damit die Not der Flüchtlinge hat sich gewaltig vergrößert. Veranlaßt durch die Räumung der den Polen zugesprochenen Gebiete östlich der Neisse und Oder und die Evakuierung aller Deutscher aus der Tschechei ergoß sich ein nach Millionen zählender Flüchtlingsstrom in die westlichen Besatzungszonen. Dadurch haben sich wohnungs- und versorgungsmäßig unhaltbare Zustände herausgebildet, die für die Zukunft zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß geben.
Die Flüchtlinge und besonders diejenigen, aus dem polnisch besetzten Gebiet haben alles zurücklassen müssen und kommen vollständig mittellos und zum Teil unterernährt und krank hier an. In den zum Teil überfüllten Auffanggebieten westlich der Elbe fehlt es am Notwendigsten, um die Flüchtlinge auch nur annähernd menschenwürdig unterzubringen. Es fehlt an Wohnraum, Mobiliar und Bekleidung, jurz gesagt alles, was diesen Ärmsten eigentlich gewährleistet werden müßte. Die Unzufriedenheit ist deshalb unter ihnen sehr groß, besonders aus dem Grunde, weil die eingesessene Bevölkerung sehr oft sich sehr herzlos beträgt und auch nicht die geringste Unbequemlichkeit in Kauf nehmen will. Einweisungen von Flüchtlingen kann nur in den seltensten Fällen ohne Hilfe der Gendarmerie erfolgen und die auf diese Weise eingewiesenen Flüchtlinge sind den größten Schikanen seitens der Gastgeber ausgesetzt.
Der Kreis Neustadt a/Rbge. Hatte am 1.9.1939 eine Einwohnerzahl von 37 873. Diese Zahl hat sich bis heute ( Stichtag 3.7.1946 ) auf 70 747 erhöht. Das entspricht einer Zunahme von 86,8%. Zu dieser Zahl ist der letzte Transport vom 10.7.1946 nicht einbegriffen.
Die Zahlen beweisen, dass der Kreis überfüllt ist und es beim besten Willen nicht möglich ist, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Von den letzten Transporten liegt heute noch ein großer Prozentsatz in Schulen, bzw. Sälen, weil Privatquartiere nicht zur Verfügung stehen.
In der heute stattgefundenen Sitzung des Kreistages des Kreises Neustadt a/Rbge. Wurden alle angeschnittenen Fragen ausgiebig besprochen und einstimmig beschlossen, die Militärregierung zu bitten, vorläufig von einer weiteren Einweisung von Flüchtlingen Abstand zu nehmen, wenigstens solange, bis auch die übrigen Kreise bzw. Regierungsbezirke der Provinz und der übrigen Teile der englisch besetzten Zone denselben Prozentsatz aufweisen.“3)

Am gleichen Tag veröffentlichte das „Neustädter Amtsblatt“ eine Anweisung des Oberkreisdirektors an die Gemeindedirektoren 4):

Wenige Monate später musste das „Amtsblatt“ von einer Zusammenkunft der Flüchtlingsbetreuer differenzierter über die Probleme der Wohnraumbeschaffung berichten:
Abschrift

„Besitzen die Einheimischen mehr Rechte als die Vertriebenen? Wohnungsausschuß des Kreises besteht zu Unrecht
Bei einer Zusammenkunft der Flüchtlingsbetreuer des Kreises Neustadt gab Kreisflüchtlingsbetreuer Freyer Auskunft über die Zusammenhänge der sich in letzter Zeit besonders stark bemerkbar machenden Mißstände auf dem Gebiet der Wohnraumbeschaffung.
Im Verlauf seiner Ausführungen stellte er fest,daß es im Kreis Neustadt nicht möglich wäre, die Differenzen ( gelinde gesagt ) zwischen einheimischen und Vertriebenen zu beseitigen. Es sei dem Kreisflüchtlingsamt völlig unmöglich, mit seiner Besetzung von zwei Kräften die Hälfte der Einwohnerzahl des Kreises ( ca. 36 000 ) zu betreuen. Dagegen weisen Dienststellen, die ein kleineres Arbeitsgebiet besitzen, oft mehr als das 6fache an Personal auf. Die Tatsache, dass es nicht durchzuführen wäre, wichtige Fragen im Interesse der Vertriebenen 2de Jure“ zu klären, mache von vorneherein alle Bemühungen in dieser Richtung illusorisch. – Bezüglich der Beschlagnahme von Wohnräumen würde oft von“diktatorischen Maßnahmen“ gesprochen – allerdings könnte nur von einer „Diktatur der Einheimischen“ die Rede sein.
Mit großer Genugtuung nahmen die Flüchtlingsbetreuer ein Schreiben der Regierung zur Kenntnis, in dem der vor einigen Monaten vom Kreistag gewählte 3köpfige Wohnungsausschuß als ungesetzlich bezeichnet wurde. Laut Wohnungsgesetz Nr. 18 liegt die Entscheidung in Wohnraumfragen einzig und allein beim Kreiswohnungsamt. Ein Wohnungsausschuß – der aber 7 Mitglieder umfassen muss – habe lediglich nur beratende Stimme.
Die Ausführungen des Flüchtlingsbetreuers Hain, Neustadt, der die Gründung eines Arbeitsausschusses zur Wahrung der Interessen der Vertriebenen – angesichts der unhaltbaren Zustände – für unbedingt notwendig erachtete, wurden mit großem Beifall aufgenommen. Dieser Ausschuß soll sich in der Hauptsache mit der Wohnraumfrage, der Abstellung von Mißständen ( in Flüchtlingsfragen ), Zusammenführung der Familien und Beteiligung an sämtlichen Ausschüssen des Kreistages befassen. Folgende Flüchtlingsbetreuer wurden gewählt: Much ( Schneeren ), Metschies ( Blumenau ), Schwandt ( Helstorf ), Hain ( Neustadt ), Skoda ( Lichtenhorst ), Dr. Hollmann ( Dedensen ) und Grund ( Wunstorf ).
Bei den kommenden Gemeinderats- und Kreistagswahlen wollen die Vertriebenen – so lautete die Forderung der gesamten Versammlung – gemäß ihrem Stärkeverhältnis in den Gemeindeparlamenten und im Kreistag vertreten sein.“5)

Während des strengen Winters 1946 wurde im „Amtsblatt“ die Bereitstellung von Bettgestellen angekündigt.6)

Gleichzeitig wurden die Einheimischen dringend um Solidarität und Mithilfe gebeten.

Schon im Januar 1947 wiederholte Stadtdirektor Fritsche im „Amtsblatt“ für die Stadt Neustadt den dringenden Appell. Ein Anzeichen dafür, dass der vorweihnachtliche Aufruf für die Linderung der Not keineswegs ausreichend gewesen war.

Die Dokumente aus der unmittelbaren Nachkriegszeit lassen ahnen, dass es insbesondere für die Vertriebenen ein „Kampf um ’s Ãœberleben“ war, geprägt auch durch viele Auseinandersetzungen mit Einheimischen. Diese lebten teilweise selbst in ärmlichen Verhältnissen, hatten aber gegenüber den Vertriebenen den Vorteil eines eigenen Daches über dem Kopf und Nutzlandes für die Eigenversorgung.

Baracken in Neustadt

Publikationen über die Lebensumstände dieser Zeit in Neustadt gibt es bisher kaum. Hartmut Dyck hat im Archiv der Region Hannover geforscht und die Ergebnisse auf seiner Internetseite www.ruebenberge.de veröffentlicht. Danach hatte Neustadt 1950 45 Baracken, 6 Notbaracken und 15 Behelfsheime. In den Baracken an der Feldstraße wohnten allein 243 Personen, in denen in Großmoor 105 ( LZ 13.Oktober 1950 ). Das Barackenlager an der Feldstraße ( heute Hans-Böckler-Straße ) war 1933 als Unterkunft für den Reichsarbeitsdienst geplant und ab 1936 kurzzeitig genutzt worden. Im Krieg waren in einem Teil des Lagers etwa 100 Kriegsgefangene untergebracht. Diese wurden der Genossenschaft „Totes Moor” für ihre Kultivierungsarbeiten im Bürgermoor zur Verfügung gestellt. Auch die Barackensiedlung „Großmoor“ der Firma Dyckerhoff zwischen Neustadt und Mardorf, vor dem Ersten Weltkrieg als Unterkünfte für Saisonarbeiter gebaut und während der zwei Weltkriege als Zivilarbeitslager genutzt, wurden mit Vertriebenen belegt. Ebenso ehemalige Zivilarbeitslager der Firmen Rischbieth, Schlüter und des Lecin-Werkes an der Suttorfer Straße. Sicherlich gab es noch weitere Baracken und Behelfsunterkünfte, von denen wir bisher nichts wissen.
Dabei gilt festzuhalten, dass diese Unterkünfte von vorneherein nicht für den dauerhaften Aufenthalt von Familien gebaut worden waren. Die Belegung mit Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg erfolgte auf niedrigstem Standard. Die Einweisung von Displaced Persons nach Kriegsende war als Ende jeder Bewohnung gedacht und durchgeführt. Insgesamt zählten die britischen Behörden im April und Mai 1945 für den Kreis Neustadt 701 Kriegsgefangene und 3465 Displaced Persons!7) Es müssen aus heutiger Sicht unvorstellbare Zustände gewesen sein. Anstelle eines Abrisses folgte der Kalte Krieg und die Belegung mit vertriebenen Familien.

Erst nach der Währungsreform 1948 setzte der Wohnungsbau langsam wieder ein. Mit einem landesweiten „Barackenräumprogramm“ wurden seit den 1950er Jahren neue Baugebiete erschlossen.
Noch 1961 zählte Neustadt zu den barackenreichsten Städten Niedersachsens. In der Feldstraße standen noch sieben, in der Königsberger Straße fünf, an der Moordorfer Straße zwei Baracken mit insgesamt 128 Mietparteien, d.h. circa 500 Personen ( LZ 6.1.1961)8)
In der Geschichtswerkstatt untersucht eine Gruppe die „Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in Neustadt und dem Neustädter Land.“ Für Suttorf liegt eine Seminarfacharbeit von Schülern der KGS aus dem Jahr 2011 vor. Zwischenergebnisse sollen im Rahmen der Vortragsabende und auf der Internetseite vorgestellt werden. Letztlich soll die Forschung in einem Buch veröffentlicht werden. Wenn Interessierte genügend Material zur Verfügung stellen, ist darüber hinaus auch eine Ausstellung denkbar. Nehmen Sie Kontakt mit uns auf!

Erinnerungen von Vertriebenen

Fremde Heimat – Vertriebene in einer ländlich strukturierten Region.
Erinnerungen von Ursula Ramm und Magdalena Staab. Moderation: Ingeborg Koslowski
Manuskript der Veranstaltung im Café Regenbogen vom 11. Juni 2015

(von links: Ursula Ramm. Ingeborg Koslowski, Magdalena Staab)

 

Vertreibung, Transport Ankunft

Ingeborg Koslowski:
Guten Abend ! Ich heiße Sie hier ganz herzlich willkommen.
Wir sind heute zu einem Gespräch zusammen gekommen, zu einem Gespräch zwischen zwei Neustädterinnen, die als Neuankömmlinge in der Fremde über ihre damalige Situation, über all die Schwierigkeiten und Probleme berichten werden, auch um sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Bomben waren während des Krieges zumeist nur auf Städte gefallen. Ländliche Gebiete blieben weitestgehend verschont, was kein humanes Anliegen war, sondern sich mehr oder weniger ökonomisch erklärte: Teure Bomben sollten vor allem strategisch wichtige Industriegebiete treffen.

Das niedersächsische Gebiet als großes Flächenland mit wenigen städtischen Zentren hatte besonders großen Anteil an ankommenden Flüchtlingstransporten. Im Jahre 1950 hatte die Bevölkerung im Kreis Neustadt im Verhältnis von 1939 um 83,4 % zugenommen.9)

Die Flüchtlinge im Raum Hannover kamen überwiegend aus Schlesien 50,4 %; Pommern 20,1 %, Ostpreußen 15,3 %.10)

Im Potsdamer Abkommen vom August 1945 hatten die Siegermächte die politische und geografische Neuordnung Deutschlands festgeschrieben. Darin wurde die millionenfache Vertreibung Deutscher als Folge des verlorenen 2. Weltkrieges und die Wiedergutmachung an Ost- und Südeuropa vereinbart.
Die Ãœberführung sollte in „ordnungsmäßiger und humaner Weise erfolgen“.
Douglas spricht von der „größten Zwangsumsiedlung der Menschheitsgeschichte“.11)

Der Empfang der Fremdlinge aus den Ostgebieten war oft alles andere als herzlich. Menschen verschiedener Kulturen prallten aufeinander. Das musste Konfliktherde schaffen. Die Neuankömmlinge hatten noch einen jahrelangen Kampf gegen den sozialen Abstieg vor sich. Sie wurden als hergelaufenes Gesindel und Polacken beschimpft. Auch die Seelsorge machte da nicht immer eine Ausnahme, wie wir bei Stefan Aust, Stephan Burgdorff lesen : ich zitiere: Flüchtlinge als Landplage – sie kämen „wie die Kartoffelkäfer“ stichelte der Pfarrer im niedersächsischen Wunstorf…12)

Ursula, du warst bei deiner Ankunft hier in Neustadt bereits 17 Jahre. Im Potsdamer Abkommen wird von einer „ordnungsgemäßen und humanen Weise der Ãœberführung“ gesprochen. Wie hast du den damaligen Abtransport aus der Heimat und die Ankunft hier empfunden, was hast du noch in der Erinnerung ?

Ursula Ramm:

In Seidenberg fand am 5. Juli 1946 um 6.00 Uhr morgens die Bekanntgabe statt, dass wir Deutschen uns um 8 Uhr auf dem Marktplatz mit Gepäck einzufinden haben.

Wir durften mitnehmen: Für 14 Tage Verpflegung; zwei Anzüge; Wäsche zum Umziehen; 50 Mark in Banknoten; Trauring; ein Bettbezug mit Bett oder zwei Decken; ein Kochtopf pro Familie; Messer, Gabel, Löffel,Teelöffel; zwei Essteller; ein Trinkbecher; ein Wassereimer auch pro Familie.

Unter großer Hitze mussten wir bis Mittag auf den Abtransport warten. Dann begann ein 10 km langer Fußmarsch nach Schönberg. Dort wurden wir in Güterwagen verladen und die Fahrt ging bis nach Marklissa in ein Lager. Das Ausladen musste unter polnischer Aufsicht schnell gehen. In dem Durchgangslager erfolgte die Registrierung und Gepäckdurchsuchung.

Am nächsten Tag erfolgte die Weiterfahrt. An der Grenze zur sowjetisch besetzten Zone wurde der Transport den Engländern übergeben, denn das Endziel war die Stadt Uelzen in der britischen Zone. Hier gab es eine gute Verpflegung und auch ärztliche Betreuung.

Am nächsten Tag erfolgte die Weiterfahrt und endete in den späten Morgenstunden in Wunstorf. Es war ein herrlicher Sonnentag, der 10. Juli 1946, als in den Bahnhof Wunstorf ein Güterzug einfuhr, der aus 60 Waggons bestand und in jedem Waggon sich 30-40 Menschen mit ihren Gepäckstücken, Betten und Kinderwagen befanden. Es waren Bewohner aus der Stadt Seidenberg O.L., ihren umliegenden Dörfern und der Nachbarstadt Marklissa.

Es verstrich eine lange Zeit, bis sich die Waggons leerten und die Angekommenen auf Lastwagen steigen konnten, die sie nach Neustadt und in die umliegenden Dörfer brachten. Nur wenige der Vertriebenen erhielten ein Privatquartier, die Unterbringung erfolgte in erster Linie in Massenquartieren. In Neustadt war es die Alte Schule, der Saal im Gemeindehaus und in Baracken in der Feld- und Wunstorfer Straße.
In den ersten Tagen sorgte das Rote Kreuz für warmen Kaffee und warmes Essen.

Tagebuchaufzeichnungen einer Stubenbewohnerin im Massenquartier berichten:
„10. Juli 1946. Früh Weiterfahrt nach Wunstorf, wo wir gegen 10 Uhr eintreffen. Hier ausladen, was sich bis Nachmittag 5 Uhr hinzieht, unter drückender Hitze. Dann wieder verladen in Lastautos, wo wir in verschiedene Richtungen verteilt werden, aber alle in naheliegende Dörfer von Neustadt. Wir selbst werden in einer alten Schule hier in Neustadt am Rübenberge im Massenlager untergebracht, wir sind 30 Personen in unserer Stube und liegen auf Stroh wie die Heringe.

11. Juli 1946. Die Neustädter Leute sind ganz stur, benehmen sich uns gegenüber ganz abweisend. Wir sollen eigentlich alle privat unter-gebracht werden, aber keiner will abgeben. Wir können uns nicht mal warmes Wasser machen. Essen und Kaffee bekommen wir von der Gemeinschaftsverpflegung. In unserm Raum haben wir weder Tisch noch Stuhl, alles muß auf dem Fußboden gemacht werden.

12. Juli 1946. Wir bekommen das Essen jetzt aus einem Gasthaus, wo wir gleich essen können. Es ist eine Wohltat, an einem Tisch zu sitzen.

13. Juli 1946. Noch keine Aussicht auf ein Privatquartier.

14. Juli 1946. Wir gehen manchmal schwimmen, hier ist eine schöne Badeanstalt.
Diejenigen, die schon privat untergebracht sind, sind ganz unzufrieden, weil sie sich kaum bewegen dürfen und keine Kochgelegenheit haben, öfter kaum ein Möbelstück drin.“

Ingeborg Koslowski:
Magdalena, manches ist für uns heute kaum oder gar nicht nachvollziehbar. So auch teilweise der Umgang mit den Vertriebenen in den Durchgangslagern. Du hast mir von Erzählungen über Entlausungen berichtet…

Magdalena Staab:
Während am 2. Vertreibungstag in Kohlfurt (heute Wegliniec / PL) am 6. Juli 1946 die Seidenberger im Güterzug auf den Weitertransport warten und nur wussten, dass er sie in die britische Zone führen soll, wurden dem Neustädter Stadtdirektor vom Oberstadtdirektor, dem das Flüchtlingsamt untersteht, 500 Flüchtlinge avisiert. (Flüchtlinge und Vertriebene werden damals noch nicht unterschieden.)
Die Antwort des Stadtdirektor am 8. Juli 1945 ist eindeutig: ohne die Freigabe der von den britischen Besatzungsmacht beschlagnahmten, aber nicht genutzten Häuser oder Schulen, die erneut geschlossen werden müssten, um als Massenunterkünfte zu dienen, sei eine Aufnahme nicht möglich.

Die Furcht vor übertragbaren Krankheiten, wie z. B. durch Läuse Ausgelösten ist groß in diesen Jahren, die Mittel sind für heutige Verhältnisse unzumutbar.
Während des 5tägigen Transportes und mehrerer Registrierungen wurden die vertriebenen Seidenberger dreimal Entlausungsaktionen mit DDT-Pulverspritzen ausgesetzt (in Polen, der sowjetisch besetzten Zone und der britischen Zone).

In Neustadt angekommen, erwarten die (lt. Ratssitzungsprotokoll v.12. Juli 1946) „620 zugewiesenen Flüchtlinge“ zunächst vor allem Massenunterkünfte:
Sie befanden sich in der Stockhausen-Schule; im Rosenkrug; im ehemaligen Arbeitsdienstlager, Feldstrasse, heute Hans Böcklerstr., auch „Langer Jammer“genannt, (das zuvor als Arbeitsdienstlager diente): 243 Personen. In „Großmoor“: 105 Personen, Alte Schule (heute Pius); Fa. Marwede /Wunstorfer Strasse; und Unterkünfte in den Dörfern.
Wohnraumbeschaffung muss mühsam um- und durchgesetzt werden, damit die Massenquartiere aufgehoben werden können, vor allem die in den Schulen.

Die Massenunterkunft Stockhausenschule wurde nach etwa 4 Wochen aufgelöst und die Schule stand zum Ende der Sommerferien wieder für den Schulbetrieb zur Verfügung.
Die 150 bis 200 Seidenberger, die dort auf Stroh genächtigt hatten, waren inzwischen in private Haushalte zwangseingewiesen worden.
In einem Konferenz-Protokoll der Stockhausen-Schule vom 18. April 1947 findet sich eine Bemerkung, dass das Rauchen der Lehrkräfte in den Pausen eingeschränkt werden solle, um den Schülern ein gutes Beispiel zu geben.
Der Neustädter Manfred Moldenhauer erinnert sich, dass er den Zigarettenrauch als Schüler gern gerochen hat. Es sei so ein menschlicher Geruch gewesen.
Damals wurden öffentliche Räume und die Räume der Massenquartiere täglich mit petroleumhaltigen Lysol desinfiziert und hinterließen einen giftigen Eindruck.

Wohnungssituation

Ingeborg Koslowski:
Deutschland lag nach dem 2.Weltkrieg in Trümmern. Wenzel schreibt dazu, dass sich etwa 310 Mio. Kubikmeter Trümmer auftürmten,womit man eine Mauer von 80 cm Höhe und einem Meter Dicke zum Mond hätte aufschichten können (damit man eine ungefähre Vorstellung hat).13)
Die Wohnungsnot in Neustadt war wegen Unterbringung der Vertriebenen, Flüchtlinge aber auch wegen der Evakuierten aus Hannover, deren Wohnungen ausgebombt waren, wie überall in dieser Zeit äußerst problematisch.
Im Wohnungsgesetz vom März 1946 (Kontrollratsgesetz Nr. 18) wurde die Requirierung von Wohnraum für die Neuankömmlinge festgeschrieben. Eine Wohnungsdirektive im Kreis Hannover, Amtsblatt für Neustadt, sieht eine strenge Durchführung der Maßnahmen vor.
In einer Beschlagnahmeverfügung wird eine Geldstrafe bis zu 10.000 RM oder Gefängnis bis zu einem Jahr angedroht.14)
Nach den bestehenden Richtlinien stand jeder Person in Neustadt damals nur ein Wohnraum von 5 qm zur Verfügung.15)
Vertriebene und Flüchtlinge, die nicht selten in ihrer Heimat über eine sehr gute Wohnmöglichkeit verfügt hatten, mussten nun mit den Einheimischen auf engstem Raum zusammenleben. Meist unter katastrophalen Bedingungen, denn eine Intimsphäre war oft genug nicht gewährleistet.
Streitigkeiten, die nicht selten auch vor Gericht endeten, waren an der Tagesordnung.
So finden wir im Dezember 1949 in der Leinezeitung den Artikel mit der Ãœberschrift: „Frauengesicht ist keine Boxbirne“ den Fall eines fast 70jährigen ehemaligen Polizeibeamten. Ich zitiere „sonst ein Musterexemplar eines ordentlichen und friedfertigen Staatsbürgers“ , der mit seinen Mietern nicht das beste Einvernehmen hatte. Ein Streit endete damit, dass er der Frau mit seiner Faust ins Gesicht schlug und ihr das Nasenbein damit zertrümmerte.
Fast hätte ihn dieser Tatbestand ins Gefängnis gebracht – es kam allerdings zu einer empfindlichen Geldstrafe. 16)
Während eines Richtfestes des städtischen Wohnblocks auf den Klagesäckern forderte der damalige Bürgermeister Gubba weitere öffentliche Mittel für den Wohnungsbau ein. Zwar gäbe es genügend Arbeitskräfte, jedoch sei zu wenig Baukapital vorhanden. Der anwesende Wiederaufbauminister Alfred Kubel mahnte mit den Worten, dass die Wohnungsbaufrage nicht allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten sei. „Denn es gebe kein Gesundheitswesen, kein Familienleben, ja keine Erziehung der Kinder ohne Wohnungsbau.“17)
Wie groß das Problem der Wohnraumbeschaffung hier war, das zeigt die Dringlichkeitsliste für Wohnungssuchende des Wohnungsausschusses vom Juli 1950: es fehlten zu diesem Zeitpunkt immer noch 1100 Wohnungen, teilweise von Suchenden aus dem Jahr 1947.
Und es gab noch 10 Notunterkünfte mit ca. 400 Bewohnern.18)

Es änderte sich bis weit in den 60-er Jahre nichts an der Wohnungsnot. Die Hannoversche Presse vom 6.1.1961 berichtet von 380 Neustädter Wohnungssuchenden, und es stehen immer noch Baracken in der Feldstraße, im Ahnsförth, im Kühlen Grunde und in der Moorstraße. Die Wohnungsnot war noch lange nicht beseitigt, und Neustadt zählt zu dieser Zeit zu den Städten mit den meisten Baracken in Niedersachsen.19)

Magdalena, was habt ihr auf der Wohnungssuche erlebt, was weißt du von deinen Eltern? Kannst du uns etwas über die Schwierigkeiten der Wohnraumbeschaffung erzählen? Wie ich von dir weiß, musstet ihr einen häufigen Wohnungswechsel vornehmen.

Magdalena Staab:
Nach der Massenunterkunft in der Stockhausen-Schule wurden meine Eltern mit mir in das Ackerbürgerhaus Windmühlenstrasse 20 (heute Zahnarztpraxis), eingewiesen. Dort lebten wir in einem Zimmer, das gleichzeitig den Durchgang zum Schlafzimmer der Eigentümer bildete.
Nach einem halben Jahr zogen wir – wieder eine Zwangseinweisung – in die Wallstrasse 1. Eine deutliche Verbesserung: ein Zimmer im 1. Stock mit separatem Eingang vom Treppenflur aus und Plumpsklo auf halber Treppe. Das bedeutete, nachts nicht über den Hof auf das Plumpsklo zu müssen. Eine Liege, auf der Nachts geschlafen und die tags mit dem aufgerollten Bettzeug als Sitzgelegenheit diente, ein Tisch, ein Stuhl.
Die Gänge zu den Ämtern (Gesundheits- und Wohnungsamt) waren bedrückend. Als kleines Kind an der Hand meiner Mutter merkte ich, dass mit meiner Mutter anders umgegangen wurde als mit den anderen Leuten, die vor uns dran waren?
Sie stammte aus dem polnischsprachigen Oberschlesien und der polnische Akzent schien zu genügen, um uns vor aller Augen herabsetzend zu behandeln.
Die NS-Ideologie von den „polnischen Untermenschen“ lebte fort, aber damals wusste ich darüber noch nichts. Ich schämte mich und wusste nicht, warum.

Die dritte Zwangseinweisung führte uns 1949 in die Mecklenhorster Strasse 12 (heute Nr. 48), zu Rabes, einem Bauernhof. Hier hatten wir schon zwei Zimmer. 1950 wurde mein Bruder geboren. Das Spielen in der Feldmark mit anderen Kindern war abenteuerlich schön.
1951 wurde ich eingeschult, in die Stockhausenschule. Die Mecklenhorsterstrasse war wenig befahren und obstbaumbestanden. Einen separaten Fußweg gab es aber nicht.
Den bedrohlichen Panzerkolonnen der Briten musste ich ausweichen, in dem ich den Straßengraben benutzte. Wenn die Leine Hochwasser führte, sah ich mit großen Ängsten das Wasser unter mir zwischen den Ritzen des hölzernen Brücken-Fußweges hindurch strudeln und träumte nachts von den Fluten.

1953 dann der Umzug in die Lindenstr. 1, bei Frau Plinke, diesmal selbst gesucht, nicht zwangseingewiesen. Dort hatten wir es gut: 3 Zimmer, eine Waschküche für Alle und ein Garten am Haus zum Anbau für Kartoffeln und Gemüse und so nah zur Schule und Kirche. 1956 kam hier meine Schwester zur Welt.

Ingeborg Koslowski:
Ursula,ihr habt ja mit eurer Großfamilie sogar im Schloss gewohnt. Was ist dir aus dieser Zeit in der Erinnerung geblieben ?
Wie sah die Wohnungssuche in der Praxis damals aus ? Wie ich weiß, hast du deine Eltern selbst aktiv bei den Ämtern unterstützt. Die Wohnraumbeschaffung musste sich für eine Großfamilie von 7 Personen besonders schwierig gestalten.

Ursula Ramm:
Es dauerte noch Wochen, Monate manchmal auch Jahre bis die Vertriebenen eine menschenwürdige Unterkunft besaßen.
Das Leben in den Massenquartieren verlangte von den Bewohnern viel gegenseitige Rücksichtnahme. Alt und Jung lebte in einem Raum, sie hatten nur das Notwendigste zum Weiterleben in den Koffern und Rucksäcken neben ihrer Schlafstätte. Es gab lange Gespräche mit dem Thema: wie wird es weitergehen, werde ich wieder in meinem Beruf arbeiten können und wie wird die schulische Weiterbildung der Kinder fortgesetzt?
(Bild : Aufruf des Oberkreisdirektors)
Im Amtsblatt der Stadt Neustadt erfolgte ein Aufruf des Oberkreisdirektors Raake mit der Ãœberschrift: „Wer den Flüchtlingen hilft, hilft sich selbst und seinem Volk.“ Dort hieß es:
„Die Not der Flüchtlinge und besonders derjenigen, die zuletzt in unseren Kreis eingewiesen wurden, ist riesengroß. (…) Tausende sind heute noch in Massenquartieren untergebracht, liegen auf Stroh, haben keine Kochmöglichkeit und nicht einmal einen Tisch oder Stuhl (…) Sie haben ihre liebgewonnene Heimat im Osten, ihr Elternhaus und liebgewonnene Freunde, Bekannte und Verwandte verlassen müssen, um nun in ihrer neuen Heimat sehr oft festzustellen, dass sie als Eindringlinge, als lästige Ausländer empfunden werden. (…) Die Flüchtlinge haben den Krieg nicht allein verloren, sondern das deutsche Volk in seiner Gesamtheit. (…) Die Flüchtlinge brauchen nicht zu betteln, sondern sie haben ein Recht zu fordern. Sie haben Anspruch auf menschliche Unterbringung und können verlangen, dass ihnen Kochgelegenheit und Töpfe, entbehrlicher Hausrat und Betten zur Verfügung gestellt werden. Es darf nicht vorkommen, dass Eingesessene ein ganzes Haus oder eine geräumige Wohnung für sich allein beanspruchen und sich weigern, ein überflüssiges Zimmer abzugeben, während man hartherzig zusieht, dass Flüchtlinge mit vier oder noch mehr Personen ein kleines Zimmer, sehr oft ohne Hausrat, mit Steinfußboden und ohne Heizmöglichkeit bewohnen müssen. (…) Wir müssen und werden ausgleichend wirken. (…) Einwohner des Kreises Neustadt a. Rbge.! Seht Eure Keller und Böden nach und stellt uns den überflüssigen Hausrat zur Verfügung. Räumt Eure Christbaumkammern und führt sie ihrem ursprünglichen Zweck wieder zu, indem Ihr Flüchtlinge darin unterbringt. Zwingt uns nicht, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Jeder gehe dem Nachbarn mit gutem Beispiel voran. Der Oberkreisdirektor: Raake“

Das Lagerleben gestaltete sich an manchen Tagen auch vergnüglich, beispielsweise dann, wenn ein Geburtstagskind unter den Stubengenossen war. Es wurde gesungen, selbstverfasste Gedichte wurden vorgetragen und wunderschöne Feldblumensträuße überreicht.
Das Tagebuch berichtet:
„26. Juli 1946. Heute zu Ullas Geburtstag wird ihr frühzeitig ein Lied von unsern Stubenstrohgenossen gesungen und anschließend ein selbstverfasstes Gedicht und Glückwünsche von Elli Adam vorgetragen, dann Ãœberreichung von Blumen. – Nachmittags gehen wir in ein Lokal und lassen uns Kaffee kochen und nehmen uns den selbstgebackenen Zuckerkuchen mit. Der abendliche Budenzauber ist an der Tagesordnung.“

Am 1. August bekamen wir ein Zimmer im Schloss Landestrost zugewiesen. Hier begann jetzt das weitere Leben einer großen Familie: einer Großmutter, ihrer Tochter mit einer 17-jährigen Tochter und einem 14-jährigen Sohn, sowie mit zwei weiteren Töchtern der Großmutter, die 47 und 36 Jahre alt waren in einem großen Raum.

Beheizt wurde das Zimmer von der Zentralheizung des Schlosses, in dem jetzt auch die Kreisverwaltung arbeitete und noch weitere Familien, die in Hannover und Hamburg ausgebombt waren, die Familie des Oberkreisdirektors, seines Chauffeurs und des Hausmeisters. In den ersten Wochen stand in dem Zimmer der großen Familie ein großer grüner Kachelofen. Erst nach einigen Wochen wurde davor ein Küchenherd angeschlossen und so brauchte das Mittagessen nicht mehr aus dem Hotel Nülle geholt zu werden.
Der Alltag gestaltete sich in dem großen Raum sehr abwechslungsreich: Zwei Kinder brauchten Platz für ihre Schularbeiten. Bald wirkte hier auch der Vater der Kinder, der aus der sowjetisch besetzten Zone kam und Bauzeichnungen und statische Berechnungen für ein hiesiges Baugeschäft anfertigte. Er hatte die Zuzugsgenehmigung erhalten, nachdem die Familie einen Wohnraum nachweisen konnte.
Im April 1948 wurde der Familie im Schloss Landestrost der Wohnraum gekündigt. Die Räumlichkeiten benötigte die Kreisverwaltung und es begann eine wochenlange Suche nach einer geeigneten Wohnung für die siebenköpfige Familie. Hierbei war der Arbeitsausschuss für Wohnfragen mit dem Flüchtlingsbetreuer erfolgreich und die Familie bekam im August 1948 eine 2-Zimmerwohnung mit Wohnküche in der Scharnhorststraße (jetzt Theodor-Heuss-Straße) )

Das Tagebuch berichtet:
„23. August 1948. Unser Umzug ist nun doch mit dem heutigen Tage vom Stapel gelaufen; der Kreis übernimmt die Unkosten. Wir bekommen in der Scharnhorst-Straße 30 zwei Zimmer mit einer ganz kleinen Kochnische. Ein Küchenherd wird uns ebenfalls gestellt, den wir in monatlichen Raten von 5 DM abzuzahlen haben; der Preis hierfür ist 173,50 DM.“

Ernährung

Ingeborg Koslowski:
Nach Kriegsende wurden die Vorräte sehr knapp. Große Agrarflächen waren verloren gegangen,Millionen von Menschen mussten auf dem verkleinerten Territorium zusätzlich versorgt werden.Der Hunger bildete für viele die wichtigste Lebenssorge.
Eine Lebensweisheit aus dem Jahre 1946 hörte sich so an: „Wer heute noch das Leben liebt, der schiebt. Wem Ehrlichkeit im Blute rauscht, der tauscht. Wem beide Wege sind verbaut, der klaut. Wer alles ehrlich nur erwirbt, der stirbt.“
Wurde man allerdings beim Schwarzschlachten oder Schwarzhandel erwischt, dann drohten empfindliche Geld- und oder Gefängnisstrafen.
Um die Ernährungslage einigermaßen in den Griff zu bekommen, wurde in Neustadt ein Ortsernährungsausschuss gebildet, zu dem auch ein Flüchtlingsvertreter gewählt wurde.20)
Zentral im Vordergrund stand die Zuteilung von Gärten an die Neuankömmlinge. In einer Gemeinderatssitzung vom November 1947 heißt es, ich zitiere: „Den Vertriebenen aus dem Osten, die in ihrer Heimat zum überwiegenden Teil Land besessen hätten, müsse vor allem geholfen werden, und zwar wenigstens durch die Zuteilung eines Kleingartens.“21)
Es wurden große Anstrengungen unternommen Land für Gärten zu schaffen. Die Grund- und Gemeindekommission beschließt im Januar 1947, dass die 105-110 Jahre alten Lindenbäume am Schießstand zu fällen sind, um 2 Morgen für Kleingärten und zusätzlich Holz zu gewinnen.22)
Ab Mai 1945 gaben die Alliierten in ihren jeweiligen Zonen neue Lebensmittelkarten aus. Man erhielt rationierte Lebensmittel nur, wenn man die entsprechende Marke abgab. Nun konkurrierten die Flüchtlinge und/oder Heimatvertriebenen erneut um die rationierten Lebensmittel, was ihre Lage weiterhin verschlechterte. Zwar waren 1550 Kalorien von der Militärregierung vorgeschrieben, bis Mitte 1948 wurde diese Vorgabe selten erreicht. Im Mai 1947 wurde der absolute Tiefstand zwischen 850 und 1050 Kalorien erreicht.23)
Das größte Problem war das fehlende Fett – teilweise standen nur 4,25g / Tag Margarine zur Verfügung. Als Folge der schlechten Ernährung breiteten sich Krankheiten wie Typhus und Tuberkulose aus. Im Dezember 1946 werden etwa 400.000 Tuberkulosekranke in der britischen Zone gezählt.
In Neustadt berichtet der Leine Anzeiger ständig über das Problem von TBC-Erkrankungen. 1949 wird in Neustadt ein Verein zur Bekämpfung von TBC gegründet, im Dezember desselben Jahres waren bereits wieder 3000 Kinder an TBC erkrankt, so ein Artikel aus dem Dezember des Jahres 1949. Nicht nur Menschen waren erkrankt, sondern auch Rinder, deshalb wurde hier geraten, den Kindern keinesfalls rohe Milch zum Trinken zu geben.24)

Magdalena, du hast mir von der Liebe deines Vaters zur Landwirtschaft erzählt. Habt ihr damals auch gleich Grabeland erhalten ?

Magdalena Staab
Mein Vater hatte in Seidenberg einen Hof von 15 ha und die Liebe zur Landwirtschaft hat ihn bis zu seinem Lebensende nicht verlassen.
In Neustadt bestellte Vater jährlich ein „Stück Feld“ für Gemüse und Kartoffeln vor der Stadt: am „Großen Weg“ in Höhe der heutigen KGS; an der Siemensstraße hinter der Fa. Ramm und Schmidt. Als Kind dachte ich, er habe sich das Feld von Bauern erbeten, bei denen er half. Ein Fund im Regionsarchiv belehrte mich eines Anderen: ein Erlass des Niedersächsischen Ministers für Arbeit Aufbau und Gesundheit, der dem Landkreis Neustadt a. Rbge. am 7. Mai 1948 zugestellt wurde.
Der Erlass betraf die Bereitstellung von Grabeland für alle Flüchtlingsfamilien auf dem Lande. Nachdrücklich wurde dort gefordert, jeder Flüchtlingsfamilie auf deren Wunsch noch in diesem Frühjahr mindestens 200 qm günstig gelegenes Gartenland zuzuweisen.
Die Unterernährung war dramatisch. Im Konferenzprotokoll der Stockhausen-Schule vom 17. Februar 1948 findet sich der Eintrag, dass die Zahl der auf Schulspeisung angewiesenen Kinder von 541 auf 612 angewachsen sei.
Vielen Kindern fehlten Behälter, Konservendosen o. ä., in die das heiße Essen gefüllt werden konnte.
Der Unterernährung der Kinder, durch nicht ausreichende Essenszuteilungen, wurde auch durch Kinderverschickungen der Kirchen entgegengewirkt, die u. a. ins Münsterland und ins Saarland führten und an denen auch ich teilnahm.
Im Frühjahr jeden Jahres mussten zur „Energieversorgung“, wie es heute heißt, durch Ofenheizung mit Torf bei der Torfverwertungsfirma Menke Anträge auf Torfstichparzellen im Moor gestellt werden. Verwandte und Bekannte ließen sich benachbarte Parzellen zuweisen, um sich gegenseitig helfen zu können. Auch ich half ab meinem 11. Lebensjahr mit, die nassen Torfsoden zum Trocknen aufzustapeln.
Im September wurde die getrockneten Torfstücke mit der Torfbahn bis zum Bahnhof gefahren und dort mit Handwagen oder gemieteten Pferdefuhrwerken nach Haus transportiert. Manchmal durften wir Kinder auf den Loren der Torfbahn mitfahren.
Vater holte auch, vom Förster genehmigt, Wurzelstucken gefällter Bäume mit dem Handwagen aus dem Wald am Damkrug, die er dann unter großen Anstrengungen in schwerer Handarbeit mit Keilen und Äxten ofenfertig zerkleinert hat.

Ingeborg Koslowski:
Ursula, wie ich weiß gibt es sehr anschauliche Beispiele in deinem Tagebuch über die Nahrungsmittelbschaffung und Zubereitung. Was kannst du uns daraus vorlesen ?

Ursula Ramm:
Neben der Wohnungssuche war die Ernährung das zweite große Problem. Die Lebensmittel waren auch nach dem Krieg noch rationiert und so halfen einige Vertriebene bei den hiesigen Bauern in der Ernte mit und der Lohn war eine warme Mahlzeit oder Kartoffeln oder Körner. Andere gingen über die Felder und stoppelten Ähren und Kartoffeln und in den nahe gelegenen Wäldern sorgten Pilze und Beeren für eine Bereicherung des Speisezettels.
Auch die Stadt verteilte Essensmarken für die Hotels Nülle und Scheve. Dort konnten wir das Essen einnehmen und es war eine Wohltat, an einem Tisch zu sitzen.

Das Tagebuch berichtet:
„24. Juli 1946. Das Wetter ist wieder sehr warm und wir gehen in die Ernte bei einem hiesigen Bauern helfen. Es gibt eine gute Vesper und 2 Mark am Nachmittag. Wir sind auch wieder nach Kartoffeln aus gewesen, aber die Bauern rücken selten welche raus und der Hunger wird immer größer.
27.Juli 1946 gehen wir wieder zu einem Bauern in ’s Kornfeld. Heute wieder eine gute Vesper und abends einen Teller Essen.
28.Juli 1946. Der vierte Sonntag schon, dass wir von daheim fort sind und sind immer noch im Massenlager. Wir spielen schon heute früh Rommee. Das Wetter ist trüb und kühl, Wir haben uns wieder so gut es geht einen kleinen Kuchen gebacken.
2. August 1946. Wir gehen zum Bauern Ranke fünf Wagen Korn abladen. Die Vesper ist wieder gut und zum Abendbrot gibt es Pellkartoffeln mit Specksauce und einem Ei.
3. August 1946. Heute arbeiten wir wieder bei einem Bauern und helfen Hafer abzuladen. Aber da sie nie Verständnis aufbringen und uns nicht mal Kartoffeln für die Arbeit geben, machen wir um halb sieben Feierabend und helfen nicht mehr. Kurz gesagt: wir lassen sie sitzen.

Wir machten Strickarbeiten und die Bezahlung erfolgte zum Teil auch mit Lebensmitteln.
„23. Dez. 1947. Wir haben regnerisches, sehr trübes Wetter, es sieht gar nicht nach Weihnachten aus. Unsre Strickarbeiten sind geschafft, heute war Ablieferungstag. Von Mühlenbrinks eine Dose Fleisch und eine schöne geräucherte Weißwurst außer der Bezahlung. Von der Suttorfer Kundin außer Rübensaft ein schönes Stück Fleisch für die Feiertage.“
26. Dez. 1946. Das Wetter ist sehr mild, vorher war es mal einige Tage sehr kalt. Fritz hat Zeichnungen fertig zu machen. Wir haben heut Mittag Klöße und das Fleisch (von Thoms) mit Rotkohl. (Frau Nülle schickt uns sogar ein paar Stückchen Putenfleisch mit dem Essen).“
Kurz nach der Währungsreform
„6. August 1948. In allen Geschäften häufen sich von Tag zu Tag die Mangelwaren, alles solche Dinge, die man bis zur Währungsreform nie zu Gesicht bekam. Die Preise für alles sind sehr hoch, so z.B. ein gewöhnlicher Aluminium-Kochtopf mittlere Größe 8 bis 10 DM, ein Rosshaarbesen 12 DM, 1 Paar Leder-Damenschuhe 20 bis 45 DM, eine Wickelschürze 25 DM, ein Herrenhemd 18 bis 28 DM.
20.Oktober 1948. Das Leben ist immer das gleiche, es besteht nur noch aus einem Hasten und Jagen. Zu kaufen gibt es fast alles, nur kein Geld dafür ist bei uns da.“

Arbeitslosigkeit

Ingeborg Koslowski:
“Zahlen sprechen eine harte Sprache“ heißt die Ãœberschrift eines Zeitungsartikels im Leine Anzeiger vom 10.12.1949: „Am 1.10.1949 befinden sich 35.285 Menschen mehr im gesamten Kreisgebiet, für die Stadt Neustadt selbst bedeutet das fast eine Zunahme von 100 % Neubürgern.
Was bedeutet das? Wo einstmals eine Person lebte sind es jetzt 2. Aber wo ist der 2. Arbeitsplatz ? Der 2. Schraubstock, die Hobelbank, die Schreibmaschine, der 2. Ackermorgen, die zweite Dienststelle ?“ Alle Angestellten und Arbeiter litten in den ersten Jahren unter dem Stellenmangel, die Flüchtlinge und Vertriebenen waren jedoch von der Arbeitslosigkeit stärker betroffen als die Einheimischen.
In der Statistik des Bundesministeriums von 1950 wird festgestellt, dass die Arbeitslosigkeit in jenen Gebieten der Bundesrepublik um so höher sei, je mehr Vertriebene und Flüchtlinge von jenseits der Oder-Neiße-Linie dort aufzunehmen gewesen seien. Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht (1950) eine völlige Fehlleistung, wird hier beklagt. Während der Gesamtanteil der Neuankömmlinge rd. 17 % der Bevölkerung ausmache, würde der Anteil der Vertriebenen/Flüchtlinge an der Arbeitslosigkeit im damaligen Bundesgebiet ca.40 % betragen.25)
In den ländlich geprägten Gebieten fehlten überwiegend die gewerblichen Arbeitsplätze, Straßen, Brücken, Schienen waren oft zerstört. Durch die später einsetzende Umsiedlungspolitik versuchte man die gravierendsten Probleme zu lösen.
Der Arbeitsamtsbezirk Nienburg wies am 1.10.49 eine Arbeitslosenrate von 15.7 % aus.26)
In der Leine Zeitung vom 13.12.1949: Im Dezember 1949 sei es endlich gelungen in Neustadt eine Bus-Verkehrslinie Rodewald – Hannover über Neustadt aufzubauen. Während Ende 1946 für diese Strecke nur 3 Fahrzeuge monatlich 8.600 Fahrgäste hätten befördern können, könnten heute 5 Postbusse 35.000 Fahrgäste im Monat befördern. Jeder Ort im Nordkreis rechts und links der Leine sei nun erreichbar. Neben den Berufstätigen stellten Schüler und Schülerinnen einen Großteil der Fahrgäste.
In der Leine Zeitung heißt es weiter dazu, dass auch Nichteingeweihte sich wohl vorstellen könnten, was es für den Fahrer bedeutete, wenn er entsprechend der Anweisung Bittende, die nicht mehr einsteigen konnten, abzulehnen hätte.
In ländlichen Gebieten gab es wenige Arbeitsplätze, die Möglichkeiten auswärts eine Arbeit aufzunehmen war lange Zeit kaum möglich, wie wir wissen.
Ingeborg Koslowski:
Ursula: Deine Mutter musste jedoch sofort eine Arbeit finden um an die begehrten Lebensmittelmarken zu kommen. Wie ist die Situation der Arbeitssuche bei euch gewesen? Hat deine Mutter schnellstens eine Arbeit finden können ?

Ursula Ramm:
In ihren erlernten und ausgeübten Berufen war es nicht möglich, eine Anstellung zu finden, jede angebotene, berufsfremde Arbeit musste angenommen werden, um Lebensmittelmarken zu erhalten.
Einige Beispiele sind:
Meine Mutter war in der ersten Zeit als Reinemachfrau bei der Kreisverwaltung beschäftigt. Erst 1949 fand sie wieder im erlernten Beruf als Kinderpflegerin eine Anstellung im Kindergarten der AWO in Neustadt, Suttorfer Straße.
Mein Onkel war Leiter der Stoffabteilung der gro0en Tuchfabrik Maue in Seidenberg; hier arbeitete er jahrelang als Heizer im Fliegerhorst Wunstorf.
Meine Tante war Büroangestellte; hier arbeitete sie als Hilfe in einem englischen Haushalt – Fliegerhorst Wunstorf
Die Arbeitslosigkeit nahm immer weiter zu, sie stieg von Woche zu Woche. In der Bevölkerung herrscht große Verbitterung. 1950 gab es 430.000 Arbeitslose in Niedersachsen.

Ingeborg Koslowski:
Magdalena, dein Vater ist vom Hofeigner ins berufliche Nichts gefallen. Wie hat er diese Situation gemeistert ?

Magdalena Staab:
Vater, der in Schlesien Hofeigner und ausgebildeter Landwirt war, verdingte sich bei Neustädter Bauern im Tagelohn oder als Saisonarbeiter gegen Naturalien und als Hilfsarbeiter auf dem Bau gegen Geld.
Zwangsbewirtschaftete Lebensmittel und Dinge aber waren dafür vor der Währungsreform nicht zu bekommen.
Das beweisen Anträge, z. B. des Kindergartens um eine Glühbirne oder der der örtlichen Hebamme, die mit einem Moped über Land fuhr, um ein Paar Ãœberschuhe.

Vater war ohne berufliche Perspektive. Nierenkoliken quälten ihn. Was sollte werden? Die Situation war existenzbedrohend.
Lange nährten Vertriebenenverbände und Politiker falsche Hoffnungen auf ein Zurück in die Heimat und behinderten damit das Einleben.
1948 fand mein Vater als Giessereihilfsarbeiter bei der Maschinenfabrik Schlüter eine Arbeitsstelle und blieb dort bis zum Ende seines Arbeitslebens.

Es gibt den Begriff des „Unterschichtungsphänomens“: Bei allen Einwanderungsprozessen ist zu beobachten, dass zunächst oder dauerhaft im Vergleich zur beruflichen Qualifikation statusniedere Arbeit und dementsprechend niedrigere Entlohnungen hingenommen werden mussten.
Der Status- und Einkommensverlust wurde oft erst in der 2. Generation ausgeglichen. Deshalb hatte der Satz in Flüchtlingsfamilien oberste Priorität: „Lernt etwas, das kann euch keiner mehr nehmen“.

Schulsituation

Ingeborg Koslowski:
Im Leine Anzeiger vom 22.12.1949 finden wir eine ausführliche Darstellung der Schulproblematik der damaligen Zeit; ein Artikel verfasst von Dr. Müller, Kreisschulrat. Unter dem Titel „Schulsorgen im Kreise Neustadt“ wird ausführlich die Lehrer- und die Schulraumnot beklagt.
Ich zitiere „Wie so viele Gebiete des öffentlichen Lebens so steht auch das Schulwesen in unserer Zeit im Zeichen der allgemeinen Not. Der Kreis Neustadt am Rübenberge ist ein getreues Spiegelbild der Zustände in der ganzen Zone.“
Weiter heißt es. Im Kreis Neustadt besuchten zur Zeit (ohne die höheren Schulen) 1240 Kinder die Schule. Von ihnen seien 48,4 % Flüchtlinge und Evakuierte. ( Der Bundesdurchschnitt lag 1950 übrigens bei 70,3 % bei den Volksschülern – Bundesministerium für Arbeit, Bonn 1950 ) Für 66 Kinder stünde eine Lehrkraft zur Verfügung. Daher müsse der Unterricht stark eingeschränkt werden.
In den Mittelschulen komme auf eine Lehrkraft 43 Schüler. Damit wäre auch bei vollem Einsatz jedes einzelnen Lehrers ein Bildungsabstieg unvermeidlich. Zusätzlich gäbe es hier sogar Gemeinden, in denen für 105 Kinder nur 1 Lehrer zur Verfügung stünde. “An der Jugend zu sparen erweist der Zukunft einen schlechten Dienst“ heißt es weiter. Und ähnlich unbefriedigend seien die Verhältnisse bei der Unterbringung der Kinder in den Schulen. Im Durchschnitt stünde für 92 Kinder ein Unterrichtsraum zur Verfügung, der auch oft noch behelfsmäßig sei. Der erforderliche Nachmittagsunterricht könne aber niemals der „Vormittagsarbeit an Fruchtbarkeit gleichkommen“ Positiv zu vermerken sei allerdings , dass inzwischen wieder Schulbücher für beinahe alle Fächer, wenn auch zu fast unerschwinglichen Preisen, vorhanden seien und dass nicht zuletzt aufgrund der Schulspeisung die Kinder wieder durchweg ausreichend ernährt werden könnten.
Ähnlich schlimm war jedoch damals auch die Lage der Berufsschulen in Neustadt. 1949 anlässlich eines Besuches des Ministers für Gesundheit und Arbeit, Alfred Kubel, schreibt der Leine Anzeiger einen Artikel mit der Ãœberschrift „ Wachsende Schule ohne Raum“.
Alfred Kubel kritisierte hier scharf die Berufsschulsituation in Neustadt. 1000 Jugendliche im Kreise Neustadt „erwarteten von ihrer letzten Pflichtschule geistiges Rüstzeug für Beruf und Leben. Sie wollen und sollen im Wechsel der Generationen künftig Mitträger der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens sein.
Wenn jedoch 30 Klassen der gewerblichen und kaufmännischen Berufsschule seit nun fast mehr als einem Jahr auf ständiger Wanderschaft seien, weil die altehrwürdige Schule „Mädchen für alles sei“, Jugendheim und Jugendherberge, Arbeitsamt und Lohnberechnungsstelle, könne ein Kind des deutschen Schulwesens für Beruf und Leben kaum vorbereitet werden.“ 27)
Eine statistische Zahl – wen es interessiert: 1950 waren insgesamt 1.583.838 Schüler und Studierende als Heimatvertriebene in der Bundesrepublik aufgenommen worden.28)

Ursula, du hattest in deiner Heimat bereits eine sehr gute Schulausbildung genossen. Wie hast du die damalige Schulsituation hier in Neustadt nach dem Kriege erlebt, was kannst du uns über deinen weiteren Werdegang berichten ? Fühltest du dich anderen Schülern gegenüber benachteiligt ? War es möglich an Lehrmaterial zu kommen ?

Ursula Ramm:
Nur eine geringe Anzahl von Jugendlichen konnte eine weiterführende Schulausbildung abschließen. Sie waren in entlegeneren Dörfern untergebracht. Die mangelnden Verkehrsverbindungen und kein Fahrrad zu besitzen, waren oft der Grund. Nach der Währungsreform waren Fahrräder zu teuer.
Auch die schulische und berufliche Betreuung gehörte zu dem Aufgabenbereich des Flüchtlingsamtes. Es gab Anträge zur Schulgeld-, Fahrgeld- und Lernmittelermäßigung. Nach der Währungsreform 1948 mit der verbundenen Geldentwertung waren die Anträge von großer Wichtigkeit, bildeten sie doch gleichzeitig die Gewähr für einen Schulabschluss.
Diejenigen, die in Neustadt untergebracht waren, hatten die Möglichkeit, ihre Schulausbildung fortzusetzen und abzuschließen. Aber Flucht und Vertreibung waren oft der Grund für eine 2jährige Verzögerung und Mangel an Schulbüchern.
Mein Schulweg vom Schloss Landestrost zur hiesigen Mittelschule war nicht weit. So schaffte ich im März 1947 den Abschluss „Mittlere Reife“.
Es war sehr schwierig den Abschluss zu erlangen. Seit Januar 1945 war der Schulbesuch bis November 1946 unterbrochen, denn Flucht und Vertreibung lagen dazwischen. Es waren keine Schulbücher und Nachschlagewerke im Besitz und lange Texte mussten aus geliehenen Schulbüchern abgeschrieben werden.
Private Kontakte zu den einheimischen Mitschülern gab es nicht. Erst kurz vor der Prüfung bahnte sich eine Freundschaft mit einer Mitschülerin, einer „Einheimischen“ an, und es wurden in den Wochen vor der Prüfung gemeinsam Schularbeiten erledigt.
Es gab Beobachtungen, dass es Einigen gelang, die Benotung zu verbessern, wenn sie den Lehrkräften Lebensmittel mitbrachten. Das konnten wir Vertriebene nicht.
Meine Mutter war ja als Reinemachfrau beim Landratsamt beschäftigt und ich half ihr dabei. Da suchte ich jedesmal aus den Papierkörben die noch nicht beschriebenen Seiten heraus und bastelte daraus mein Schulheft selbst. Denn so etwas gab es damals noch nicht.
Das Angebot von Lehrstellen (Ausbildungsplätzen) war sehr eingeschränkt.
Ich selbst hatte das Glück, im Lecinwerk eine Lehrstelle als Chemie-Laborantin zu finden.

Ingeborg Koslowski:
Magdalena, bei dir war die Situation völlig anders. Du bist von klein an in das Kindergarten- und Schulsystem hineingewachsen. Kannst du uns deine Erinnerungen schildern ?

Magdalena Staab:
Aus der Chronik der katholischen Kirchengemeinde geht hervor, dass im Juli 1946 zwei evakuierte Ordensschwestern nach Neustadt kamen.
Die Engländer hatten zu dieser Zeit den städtischen Kindergarten am Schützenplatz beschlagnahmt. Die Stadtverwaltung bat den katholischen Pfarrer, vorübergehend im Gemeindehaus der Kirche an der Wunstorferstraße eine Kindergartengruppe einzurichten.
Dort bin ich mit vielen „einheimischen“ Kindern Kindergartenkind gewesen.
Kurios war eine Entdeckung in einem Nebengebäude der Kirche. Beim Herumstöbern öffneten wir einen Raum, der bis unter die Decke mit Sandalen und Stöckelschuhen gefüllt war: eine Hilfslieferung aus Amerika, wie wir erfuhren.
Am 4. November 1949 verließen die Ordensschwestern Neustadt wieder. Der städtische Kindergarten „Am Schützenplatz“ wurde wieder freigegeben.

Ostern 1951 wurde ich mit 90 Kindern in die Stockhausenschule eingeschult.
Aus dem Konferenzprotokoll vom 12. April geht hervor, dass nun 1057 Kinder (507 Mädchen und 550 Jungen) die Schule besuchten. Ausgelegt war die Schule für 350 Schüler. Nun wurden auch die Bodenräume zu Klassenzimmern, was wir Kinder als abenteuerlich erlebten.
Im Konferenzprotokoll vom18. Okt. 1946 wird Schulrat Dr. Müller mit den Worten zitiert: „Eine Isolierung der Flüchtlingskinder kommt nicht in Frage, da diese sich vorbildlich in die Gemeinschaft der übrigen Kinder eingeordnet haben.“
Ich hatte gute Lehrer und meine Herkunft unterschied mich nicht von anderen Kindern. Die größte Freude für mich war, eigene neue Schulbücher zu bekommen. Das Lesebuch: „Die gute Saat“, hatte es mir besonders angetan. Die neuen Bücher wurden am Schuljahresbeginn sorgsam zur Schonung in Packpapier eingeschlagen.

Dankbar bin ich bis heute meinem ersten Klassenlehrer, Wilhelm Kallmeyer, und dem Musiklehrer, Friedrich Kunze, bei dem ich für 20 Pfennige einmal wöchentlich Flötenunterricht bekam.

Am 19. September 1957 vermerkt Frl. Corvinus in der Schulchronik, sei „zum ersten Mal ein ganztägiger offener Elternsprechtag angesetzt worden“. Die Sprechzeiten seien weit überschritten worden, vor allem abends seien viele Väter gekommen. Die Lehrkräfte zeigten sich hocherfreut. Von 725 Kinder kamen 485 Eltern. Auch mein Vater hatte den Sprechtag genutzt. Er kam nach Hause mit der Bemerkung, dass ich viel besser sein könne, wenn ich mir mehr Mühe gäbe.

Vereine / Kirchen

Ingeborg Koslowski:

Die soziale und kulturelle Integration gelang in Deutschland erstaunlich schnell, trotz vieler Unterschiede. Im Bundesvertriebenengesetz von 1953 war der Paragraph 96 mitentscheidend,der zur Sicherung und Erhaltung des Kulturguts der Vertriebenen verpflichtete.
Die Wahrung des kulturellen Erbes war ein Ziel vieler Heimatverbände, deren Mitglieder nach der Vertreibung aus der Heimat einen Platz suchten, um die Erinnerungen zu pflegen und zu wahren. Schon früh begannen sich die Heimatvertriebenen zu sammeln und zu organisieren, nachdem das 1946 von den Alliierten erlassene Koalitionsverbot stückweise seit 1948 aufgehoben worden war. Man hatte keine Angst mehr vor einer Radikalisierung von Millionen von Heimatlosen, insbesondere nach der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950, in der festgeschrieben wurde, dass man auf Rache und Vergeltung verzichte. Das war meines Erachtens ein bemerkenswerter Vorgang nur 5 Jahre nach Beendigung des Krieges und der Vertreibung.

Bis 1994 befand sich in Neustadt die Heimatstube der Seidenberger unter der Patenschaft der Stadt Neustadt. Danach wurden die Museumsstücke nach Görlitz geschickt, wo sie bis heute in einem Museum aufbewahrt werden.
Aber auch Sportvereine spielten eine nicht unerhebliche Rolle für die soziale Integration der Heimatvertriebenen.

„Die Sportvereine bringen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität zusammen und vermitteln Werte, die für unsere Gesellschaft von grundlegender Bedeutung sind“, so Staatssekretär Jürgen Häfner 2011 in Oppenheim bei der Verleihung der Sportplakette des Bundespräsidenten an 28 Sportvereine.

Ursula, kannst du uns einerseits etwas über deine Zeit im Sportverein Neustadt sagen, hat es dir die Integration hier in Neustadt einfacher gemacht? Und andererseits etwas über die Seidenberger. Gibt es heute noch Zusammenkünfte von Seidenbergern, auch in der nachfolgenden Generation ?

Ursula Ramm:
Wir Kinder und Jugendliche fanden hier im Sportverein, Schwimmverein und bei der Pfadfinderschaft eine sogenannte „sportliche Heimat“.

Das Tagebuch berichtet:

„24. März 1948. Christoph fährt mit der Evangelischen Jungenschaft nach Polle für 5 Tage.

30. März 1948. Abends um halb 11 kommt Christoph von der Fahrt zurück, es hat ihm sehr gut gefallen und bringt die ganze Essware, Brot, Butter und Kuchen, die wir ihm mitgaben, wieder zurück, da sie dort gut verpflegt wurden.“

Seidenberger Treffen
Neustadt am Rübenberge war für die vertriebenen Seidenberger und die er umliegenden Kirchspieldörfer ein fester Beziehungspunkt, da die mit dem Vertreibungstransport im 10.Juli 1946 in Wunstorf Angekommen in der Stadt und den umliegenden Dörfern verteilt wurden. Kontakte mit allen Heimatfreunden schufen Heimatfreunde mit der Herausgabe eines Rundbriefes. Der erste erschien am 8. November 1947. Bald wurde auch die erste Heimatzeitschrift „Rund um den Burgsberg“ noch vor der Währungsreform 1948 gegründet.
Alle Familienereignisse wie Geburtstage, Hochzeiten, Todesfälle erschienen in diesem Blatt, sowie Ankündigungen über Heimattreffen. Im Jahr 1946 übernahm der Goldammer-Verlag dieses Blatt.

Viele Jahre wurden diese Nachrichten in vorbildlicher Arbeit von Frau Charlotte Adler gesammelt und monatlich an das „Laubaner Tageblatt“ zur Veröffentlichung weiter geleitet. Und das alles mit Schreibmaschine, neben ihrer Arbeit beim AWO Kindergarten, ohne Computer. Dazu gehörte für sie auch eine zeitraubende Korrespondenz mit den Heimatfreunden.
Heute sind alle Geburtstagsdaten digitalisiert.

Im Monat Mai 1949 fand das erste große Heimattreffen der Seidenberger in der Neustädter Turnhalle Lindenstrasse statt und es wurde für viele Heimatfreunde die erste Begegnung nach dem Kriege.

Das Tagebuch berichtet:

„Heut steigt unser Heimatabend in der hiesigen Turnhalle. Der Saal ist bis auf den aller letzten Platz besetzt, ein guter Erfolg; über 500 Personen sind da. Wir kommen erst früh um 6 Uhr nach Hause.“

Dieses Treffen wurde in den folgenden Jahren eine bleibende Einrichtung und wurde bis zum Jahr 2009 als „Seidenberger Kirmes“ am letzten Sonnabend im September in Neustadt a. Rbge. und nach der Wende in Görlitz und in Seidenberg/Zawidow gefeiert.

Seit dem 15. September 1955 ist die Stadt Neustadt a. Rbge. die Patenstadt von Seidenberg O.L. und den umliegenden Dörfern. Ganz besondere Bedeutung hat die Patenschaft durch die Einrichtung der „Seidenberger Heimatstube“ im Jahr 1979 gefunden. Dank finanzieller Unterstützung der Stadt Neustadt a. Rbge. und Spenden von Seidenberger Heimatfreunden war die Einrichtung und der Erwerb von Bild- und Dokumentenmaterial möglich. Ein weiterer Ausdruck der Verbundenheit mit der schlesischen Patenstadt ist die Umbenennung einer Straße in Neustadt a. Rbge. in „Seidenberger Straße“.

Nach der Wende 1989 nahm die Stadt Neustadt Kontakt mit Seidenberg, die heute polnisch Zawidow heißt, auf. Den ersten offiziellen Empfang gab es am 29. September 1991 mit den Vertretern beider Städte, zu denen auch alle mitgereisten Heimatfreunde der ehemaligen Stadt Seidenberg eingeladen waren.
Heute vermittelt eine freundschaftliche Verbundenheit der Familien von Zawidow und den ehemaligen Bewohnern von Seidenberg ein Bild der Versöhnung. Und eine herzliche Gastfreundschaft empfängt die ehemaligen Bewohner bei ihren Besuchen.

Ingeborg Koslowski:

Magdalena, viele Vertriebene fanden zuerst in den Kirchen den Anschluss an die neue Heimat; insbesondere in der katholischen Kirche mit ihren bekannten Riten. Du hast mir von deinen Eltern darüber erzählt. Wie war das damals ? An was kannst du dich erinnern?

Magdalena Staab:
Für die Eltern war die katholische Kirche ein Ort der Identität und Integration.
Meine Mutter stammte aus dem katholischen Oberschlesien, Vater gehörte als Katholik im protestantischen Seidenberg einer Minderheit an. Beide hatten sich unter diesen Vorzeichen kennen gelernt und fanden in Neustadt eine ähnliche Situation vor.
Ãœber die neuen politischen Grenzen hinweg bildete der katholische Glaube eine Verbundenheit mit den Verwandten hinter dem „Eisernen Vorhang“ und war ihnen Stärkung und Trost.
Die barocken Formen schlesischer Glaubensausübung zeigten sich an kirchlichen Hochfesten. Im Mai bei Maiandachten erfüllten gebundene Girlanden, Birken, Flieder, Maiglöckchen den Kirchenraum mit Duft und Pracht. Es gab Liturgien mit Weihrauch und die Fronleichnamsprozession mit Blasmusik durch den Pfarrgarten. Neustädter Schulkinder bezeichneten diese als „Schützenfest der Katholischen“.

Das Hildesheimer Gebet- und Gesangbuch, „Canta Bona“ erschien 1951 mit einem Anhang ostdeutscher Kirchenlieder.
In der Fortführung dieser gewohnten Rituale fanden die Eltern in der Fremde eine Form der emotionalen Bewältigung ihrer erlittenen Verluste.
Schon bald gab es erste „Mischehen“, sowohl zwischen Protestanten und Katholiken, die damals sehr behindert wurden, als auch zwischen Einheimischen und Vertriebenen.

Die Ankunft der Vertriebenen im Westen sollte das konfessionelle Antlitz der BRD verändern, wie seit der Reformation und dem 30jährigen Krieg nicht mehr.

Lastenausgleich / Nebenerwerbssiedlung

Ingeborg Koslowski:

Die Vertriebenen bildeten die größte Gruppe der durch den Krieg Geschädigten mit den größten materiellen Verlusten (Haus, Hof, Vieh, Hausrat, Existenz) – alles musste zurückgelassen werden.
Mit dem sogen. Lastenausgleich sollte ihnen schnell geholfen werden. Es sollte eine Umverteilung des Vermögens stattfinden (insbesondere betraf das die Immobilienbesitzer).
Jene mussten eine Lastenausgleichsabgabe zahlen, die Raten konnten je nach Höhe in bis zu 120 vierteljährlichen Raten gezahlt werden, also verteilt auf bis zu 30 Jahren. Es trat im September 1952 in Kraft. Die Neuansiedlung von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen war eine zentrale Aufgabe.
Im Rahmen des BVG § 46 Abs.1 hatte die Bundesregierung von 1953 – 1957 Programme zur Neuansiedlung von Vertriebenen und Flüchtlingen aufgestellt, zu denen auch die sogen. Nebenerwerbssiedlungen gehörten. Ziel war es, den vertriebenen Landwirten aus den Ostgebieten eine Lebensgrundlage zu schaffen.
Möglichst viele Heimatvertriebene sollten in landwirtschaftlichen Nebenerwerbsstellen angesiedelt werden. Es sollte ihnen die Möglichkeit gegeben werden neben dem Haupterwerb einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen, welche die meisten schon in ihrer Heimat ausgeübt hatten.
Natürlich war die Anzahl der Bewerber groß, die Erstauswahl oblag den Flüchtlingsämtern und die Bewerber mussten für die landwirtschaftliche Tätigkeit geeignet sein und einen Nachweis führen, dass diese früher ihre Lebensgrundlage bildete.
Entsprechende Bauprojekte wurden gefördert. Ãœber die einzuhaltenden Bestimmungen und Auflagen wird uns Magdalena etwas sagen, denn ihre Familie bezog ein Haus in dieser Neusiedlerzeit in Neustadt.

Magdalena, dein Vater hat einen entsprechenden Antrag gestellt. Was kannst du uns berichten über die Modalitäten, und es gab ja in Neustadt mehrere Nebenerwerbssiedlungshäuser, nicht wahr ?

Magdalena Staab:
Mit dem LAG vom 1. 9. 1952 sollte den Deutschen, die infolge des 2. Weltkrieges Vermögensschäden oder andere besondere Nachteile erlitten hatten, finanzielle Entschädigung gewährt werden. Dazu gehörten auch die Lasten von Vertriebenen östlich der Oder/Neiße – Grenze.
Im Sinne sozialer Gerechtigkeit sollte eine Umverteilung erreicht werden, von denjenigen, denen ein erhebliches Vermögen / Immobilienvermögen geblieben war.

Nebenerwerbssiedlungen

Im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes §46 Abs.1 hatte die Bundesregierung von 1953 bis 1957 Programme zur Neuansiedlung von Vertriebenen und Flüchtlingen aufgestellt, zu denen auch die sog. Nebenerwerbssiedlungen gehörten.
Ziel war es, vertriebenen Landwirten aus den ehemaligen Ostgebieten eine Lebensgrundlage zu schaffen. Unter den Vertriebenen hatten die Bauern seinerzeit ein besonders schweres Los. Ihnen fehlte jede Grundlage zur Ausübung des Berufs und damit die Basis für einen Neuanfang.
Die detaillierte Ausgestaltung der Nebenerwerbssiedlungsprogramme lag in den Händen der Landwirtschaftsministerien der jeweiligen Bundesländer.
Grundsätzlich galt jedoch:

  • die Bewerber mussten nachweisen, dass sie aus der Landwirtschaft kommen und zur Bewirtschaftung qualifiziert sind;
  • die Grundstücke mussten 1250 bis 2500qm groß sein und mit einem vorgeschriebenen Stallgebäude bebaut werden, damit sie der Selbstversorgung dienen konnten;
  • die Häuser hatten einen Keller und im Erdgeschoss eine Wohnfläche von etwa 60 – 75qm und waren für damalige Verhältnisse groß.
  • Sie mussten über eine Einliegerwohnung im Dachgeschoss verfügen und dienten damit der Wohnraumbeschaffung. Sie mussten für 10 Jahre vermietet werden, um in das Siedlungsprogramm aufgenommen zu werden.

Oft zogen die alten Eltern oder Kinder der Erbauer mit ihren jungen Familien in die Einliegerwohnung, die dadurch zu Mehrgenerationen-Häusern wurden.
Aus der Not heraus aktiviert, war es ein geniales Konzept.

In Neustadt finden sich Nebenerwerbssiedlungsstellen u. a. an der Südstraße; am Ernst-Strobach – Platz; Bordenau: Alte Mühle; Mardorf: Weißdornweg und in einzelnen Baulücken.

Mein Vater war spät dran mit der Bewerbung um eine Nebenerwerbssiedlungsstelle bei der Niedersächsischen Landgesellschaft.
Er hatte als Hoferbe eines 15ha großen Hofes in Alt-Seidenberg im Januar 1959 eine Hauptentschädigung von 2.200,- DM zuerkannt bekommen, 1955 auch eine Hausratsentschädigung in Höhe von 1550,- DM, zu welchem auch landwirtschaftlich – technisches Inventar zählte.
Lange hatte er abgewogen, ob er von seinem Hilfsarbeiterlohn und dem Lohn meiner Mutter durch eine Putzstelle, diesen finanziellen Kraftakt schaffen könne.

1963, 18 Jahre nach Kriegsende, kaufte er, zu inzwischen angezogenen Marktpreisen, ein Grundstück in der Bollriede für 12.000.- DM, das die Mindestgröße für eine Nebenerwerbssiedlungsstelle besaß.

Die Baukosten – bei hohen Eigenleistungen – beliefen sich auf 62.700.- DM
Die über die Niedersächsische Landgesellschaft vermittelten Kredite betrugen 65.200.- DM, bei einem derzeit hohen Zinsniveau.

1973 forderte die Stadt für die Erschließung der Bollriede 19.140.- DM. Eine Krisensituation!

Nach dem Einzug 1966 wohnten meine Eltern und meine jüngeren Geschwister in der EG-Wohnung und die Einliegerwohnung mieteten mein Mann und ich mit bald zwei Kindern.

Für meinen Vater war es trotz der immensen Anstrengungen wichtig, die Familie um sich zu haben.
Der Hang zur eigenen Scholle und die Freude an der Arbeit im Garten waren ihm anzumerken und prägten sein Leben.

Mit dem Tod des Vaters 1983 trat ich ein Erbe mit 44.000,- DM Schulden an.
Meine Mutter wohnte bis zu ihrem Tod 1994 in der unteren Wohnung.

Neustadt als Heimat?

Ingeborg Koslowski:

Bevor ich unser Publikum nun zur Mitdiskussion einlade, möchte ich mich bei meinen beiden Gesprächspartnerinnen bedanken. Dieser Abend sollte nicht zuletzt dazu dienen, nicht zu vergessen,
die Zeit nach dem 2. Weltkrieg, die vielen Entbehrungen, die Deutschland damals zu schultern hatte, und vor allem die großen Anstrengungen der Vertriebenen und Flüchtlinge sich eine zweite Heimat zu schaffen. Letztendlich hatten sie einen nicht geringen Anteil, an dem, was man heute das Deutsche Wirtschaftswunder nennt, um das uns die Welt beneidet. Mit ihrer Schaffenskraft haben sie auch ein neues demokratisches Deutschland, so wie es heute ist, erst ermöglicht.

Liebe Magdalena, liebe Ursula – ich bitte euch um ein kurzes Statement: Was meint ihr, ist die soziale Integration gelungen, und habt ihr die neue Heimat akzeptiert ? Fühlt ihr euch heute als wirkliche Neustädterinnen ?

Ursula Ramm:
Ich war ja 17 Jahr alt als ich nach Neustadt kam. Ich hatte noch sehr viele schöne Erinnerungen an meine Heimat, die auch die Heimat meiner Eltern und Großeltern und Urgroßeltern war. Meine Kinder sind in Neustadt geboren, die sind Neustädter. Aber ich selbst fühle mich nicht als Neustädterin. Ich bin immer noch eine aus Seidenberg, oder eben aus Niederschlesien oder aus der Oberlausitz.
Magdalena Staab:
Ich bin ganz anders groß geworden. Ich kannte Seidenberg nur noch aus den Erzählungen meiner Eltern. Und das hat mich oft verwirrt, zu hören von Leuten und Orten, die ich nicht kannte. Aber ich spürte die große Sehnsucht meiner Eltern nach dem Vergangenen. Und wir sind oft in Seidenberg gewesen, und ich finde die Landschaft wunderschön. Ich liebe schlesischen Streuselkuchen und Mohnkuchen, und den schlesischen Dialekt mag ich immer noch. Aber ich bin Neustädterin, und ich lebe hier gerne. Und besonders dankbar bin ich für das Bildungssystem, das es in Niedersachsen gab. Dass es mir über den zweiten Bildungsweg einen beruflichen Aufbau ermöglichte.

Impuls

Ingeborg Koslowski:

Ich habe eine Frage an Sie, verehrtes Publikum, das unseren Ausführungen so geduldig zugehört hat, denn wir möchten gerne mit Ihnen in Interaktion treten, uns mit Ihnen unterhalten:

Was meinen Sie, wie hat Neustadt sich verändert, nachdem innerhalb so kurzer Zeit sich die Einwohnerzahl fast verdoppelt hat.

Hat die Stadt ein neues Antlitz bekommen, in ökonomischer, sozialer oder kultureller Sicht ?
Nehmen Sie unter „info@neustadt-geschichte“, oder per Brief Kontakt zu uns auf!
Quellen- und Literaturverzeichnis

Archiv der Region Hannover
Archiv der Stadt Neustadt am Rübenberge
Archiv des Landkreises Hannover
Aust, S., Burgdorff, S. (Hrsg.): Die große Flucht, Bonn 2005
Bundesministerium für Arbeit, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland (1946-1950), Bonn 1950
Bundesvertriebengesetz, Bonn 1953
Douglas, R.M.: Ordnungsmäßige Ãœberführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl. München 2012
Dyck, H., Baracken und Notunterkünfte. Historsisches über Neustadt auf www.ruebenberge.de
Kontrollgesetz Nr. 18, Wohnungsgesetz vom 8.3.1946
Krug, M., Mundhenke, K.: Flüchtlinge im Raum Hannover und in der Stadt Hameln 1945-1952, Hildesheim 1988
Tagebuch der Getrud Rößler
Uelschen, G.: Die Bevölkerung Niedersachsens 1821-1961, Hannover 1966
Wenzel, R.: Die große Verschiebung: Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland, Stuttgart 2008
Wohnungsdirektive 11 vom 28.9.1946, in: Kreisarchiv Hannover, Amtsblatt für den Kreis Neustadt a. Rbg. Nr. 38/8.11.1946

Biografische Daten von Willi Zöllner

Willi Zöllner bearbeitet seit vielen Jahren die Familiengeschichte der Familie Nülle, zu der er im Sommer 1947 gestoßen ist und deren Tochter er 1983 geheiratet hat. Dazu gehört auch, dass Ende des 19. Jahrhunderts ¾ von zwei Generationen des Ackerbürgerhaushaltes in die USA ausgewandert sind, zu denen der Kontakt im Laufe der Jahre überwiegend abgebrochen ist.
Seit Anfang 2010 arbeitet Willi Zöllner im Vorläufer der Geschichtswerkstatt Neustadt mit. Er hat im Zusammenhang des Kooperationsprojekts mit zwei Seminarfachgruppen Geschichte der KGS Neustadt zur „Migration und ihrer Bedeutung für die lokale Entwicklung“ Schülerarbeiten zur Auswanderung und Integration von Mitgliedern der Familie Nülle und zur Integration von Vertriebenen in Neustadt begleitet.
In diesem Zusammenhang hat er die folgenden Aufzeichnungen im September und Oktober 2011 verfasst. (Hans-H. Bückmann)

Geburtsdatum: Jahrgang 1931
Geburtsort: Alt-Seidenberg, Niederschlesien
Eltern: Emil Zöllner, Minna Zöllner, geb. Pohl
Konfession: evangelisch
Geschwister: Erich Zöllner, Jahrgang 1932
Familienstand: verheiratet seit 1983 mit Henny Nülle, geschiedene Bückmann

Willi Zöllner hat nach dem Besuch der Volksschule in Schlesien eine Landwirtschaftslehre begonnen. In Neustadt besucht er 1948/49 in zwei Wintersemestern die Landwirtschaftsschule und macht anschließend einen Meisterlehrgang mit Abschlussprüfung. Er leitet die landwirtschaftliche Abteilung eines Neustädter Industriebetriebes und wechselt schließlich als Lagermeister zum genossenschaftlichen Zentrallager für Saatgut-Aufbereitung und Auslieferung nach Isernhagen.
Er ist seit Jahrzehnten in der Neustädter Schützengesellschaft und als Mitglied im Förderverein „Musikgarten“ aktiv.

Erlebnisse aus meiner Jugendzeit: Besetzung und Ausweisung

1945 Schulentlassung Volksschule Alt-Seidenberg – Schulentlassung, die nicht mehr stattfand

Schon ab Anfang Februar gab es keinen Unterricht mehr. Durch das Vordringen der Russen bis Lauban, ca. 17 km von uns entfernt, gab es eine Evakuierung von außerorts stammenden Personen. Zum Beispiel Frauen und Kinder, die aus dem von Bomben bedrohten Rheinland in unserem Dorf Unterkunft gefunden hatten. Und auch unsere Lehrerin, Fräulein Raupach, sie stammte aber nicht aus dem Rheinland, zog es scheinbar zu ihrer Familie.
Nachdem die Russen noch im Februar zurück gedrängt sind, die Kampffront weiter nach Osten verlegt wurde, gab es keinen Unterricht mehr. Das hatte zur Folge, dass wir keine Abgangszeugnisse bekamen.
Meine Konfirmation fand ohne die sonst übliche Prüfung in der Seidenberger Kirche statt. Später, nach der Ãœbernahme durch die Polen, wurde diese Kirche abgerissen. Ein Konfirmationsanzug war in dieser Zeit nicht zu kaufen. Meine Mutter hat für mich einen dunklen Anzug vom Sohn der Frau Rönsch, der erst wenige Monate zuvor im Krieg gefallen war, erstanden. Frau Rönsch hat sich sehr schwer getan, sich von dem Kleidungsstück ihres einzigen Sohnes zu trennen.
Am 1.April 1945 begann ich die Landarbeitslehre bei Herrn Meusel in Oberlinde. Der Betrieb war nicht sehr groß. Es waren ein Pferd, fünf Kühe und das entsprechende Kleinvieh vorhanden.
Oberlinde liegt etwa auf halbem Wege zwischen Seidenberg und Lauban. Wie die Auswahl dieser Lehrstelle zustande gekommen ist, kann ich nur vermuten. Bei der bereits 1944 statt gefundenen Berufswunsch-Erklärung habe ich bei den bis zu drei Berufen folgende Reihenfolge gewählt: Landwirt, Bäcker, Sattler. Im sogenannten Dritten Reich wurde über den Reichsnährstand dem Bauernstand große Bedeutung zugemessen. Folglich wurde meinem ersten Wunsch auch entsprochen.
Wie aus dem damals abgeschlossenen Lehrvertrag ersichtlich, war die Kreisbauernschaft maßgebend für die landwirtschaftliche Ausbildung. Im Kopf des Lehrvertrages steht folgender Satz: „Das Ausbildungsziel ist ein beruflich tüchtiger, körperlich gesunder und fest im Nationalsozialismus stehender Nachwuchs“. Der Lehrherr, Herr Meusel, war NSDAP-Mitglied und als solches mehrmals in Parteiuniform mit Hakenkreuzbinde unterwegs. Es ist anzunehmen, dass die Ausbildung vorzugsweise in die Hände besonders aktiver Parteimitglieder gelegt wurde.
Bei meinem Lehrantritt am 1. April lag eine Sturmgeschütz-Einheit der Wehrmacht vor Ort. Die war einige Wochen zuvor bei der Zurückschlagung der russischen Front bei Lauban im Einsatz beteiligt. An der von Oberlinde nach Lauban durch den Hochwald führenden Straße waren an den Bäumen in ca. zwei Meter Höhe Sprengladungen angebracht, die bei Bedarf gezündet und die Fahrbahn unpassierbar machen konnten.
Unerklärlich ist mir bis heute, wie man einen 14-jährigen Jugendlichen, nämlich mich, gleich nach der Schule in die unmittelbare Nähe des nicht weit entfernten Kampfbereiches mit der russischen Armee schicken konnte.
Nach dem täglichen Arbeitsablauf, wenn abends Ruhe einkehrte, hatte ich ziemlich Heimweh. Jedes zweite Wochenende konnte ich nach Hause radeln. Das war ein ersehnter Tag. Am 5. und 6. Mai hatte ich wieder mein freies Wochenende. Da wurde schon gemunkelt, der Russe wäre wieder im Vormarsch. – Ich habe meine Lehrstelle nicht wieder aufgesucht.

Am 6. Mai bekamen wir Order, unser Anwesen in Alt-Seidenberg zu verlassen. Unsere Gebäude lagen auf einer leichten Anhöhe und im Schussbereich der Artillerie.

( Bild 1: Anwesen der Zöllner-Familie in Alt-Seidenberg, Aufnahme ca. und 1972 beim Besuch der polnischen Bewohner )

Wir sind dann mit dem schon seit längeren bepackten und bereit stehenden Treckwagen in das tiefer liegende untere Dorf zu Bekannten gefahren. Aus dem Ort heraus war nicht mehr zu kommen. Die Straßensperren, aus dicken Holzstämmen errichtet, waren schon geschlossen.

Russische Besetzung

Am 7. Mai gegen 18 Uhr kamen die ersten russischen Soldaten in unser Dorf. Es gab kaum Kampfhandlungen. Auf dem Rittergut war anfangs noch ein Pak-Geschütz postiert, was aber bald aufgab. Am folgenden Tag, dem 8. Mai, hörten wir im Radio von der Kapitulation. Auf dem Rittergut wurde eine russische Kommandantur eingerichtet. Sämtliche Pferde des Dorfes wurden beschlagnahmt. Plünderungen in unserem Dorf waren nicht bekannt. Eine nächtliche Ausgangssperre für Deutsche wurde verhängt. Schon kurze Zeit nach dem Einmarsch ernannte der russische Kommandant einen neuen deutschen Gemeindevorsteher und sorgte dafür, dass Familien mit Kindern regelmäßig Milch bekamen. Mehrmals ist vorgekommen, dass betrunkene Russen deutsche Frauen des nachts belästigten und auch vergewaltigten. Das hatte zur Folge, dass der russische Kommandant eine nächtliche Patrouille aus deutschen Ortsleuten einrichtete. Ausgerüstet war die zu je zwei Mann mit einem Feuer-Signalhorn (Tute) und hatten bei der Kommandantur Meldung zu machen. Alle drei Stunden wurde abgelöst. Es ist nicht bekannt, dass es danach noch Zwischenfälle gegeben hat.
Die russische Einheit besaß über eintausend Pferde und lagerte in dem Wiesental zwischen Alt-Seidenberg und Göht, wo der derzeitige Bachlauf die Ortsgrenze und gleichzeitig die Grenze zu Böhmen war. Die Futterversorgung für so viele Tiere war nicht einfach. Deshalb wurden viele Pferde, die nicht direkt zum Tross gehörten, frei laufen gelassen, um sich selbst zu verpflegen. Das hatte zur Folge, dass sich Trupps von 10 – 20 Tieren bildeten, durch die Felder zogen und sich in dem jungen aufwachsenden Getreide sättigten und dabei entsprechend hohen Schaden anrichteten. Ärgerlich war es, mit ansehen zu müssen, dass viele Pferde ohne Nutzen in der Gegend umherliefen, Schaden verursachten, wogegen im Ort keine Zugtiere für die erforderlichen Arbeiten zur Verfügung standen.
Zusammen mit ein paar jungen Leuten haben wir dann von den am weitesten von dem russischen Lager entfernten Pferden einige in unser Dorf getrieben, eingefangen und an Interessierte weitergegeben. Wir haben das mehrmals getan, weil in Abständen die Russen unsere eingefangenen Pferde wieder wegnahmen. Zu einer Bestrafung kam es allerdings nicht.
Mehrmals wurden große Rinderherden in Richtung Osten vorbei getrieben ( zusammen getriebenes Beutevieh ). Besonders bedrückend war, wenn Kolonnen deutscher Kriegsgefangener ebenfalls in Richtung Osten vorbeizogen und wie Vieh behandelt wurden. Da war es ratsam, als männliche Person sich nicht zu zeigen. Es bestand die Gefahr, mit eingereiht zu werden, um die unterwegs durch Entkräftung umgefallenen, dann erschlagenen oder erschossenen Soldaten stückzahlenmäßig wieder auszugleichen.

Polnische Ãœbergangszeit

Die russische Besatzung blieb bis Mitte Juni und wurde gegen polnische ausgetauscht. Für Anfang Juni hatten meine Großeltern für mich eine Stelle bei Landwirt Gebauer in Kundorf ausgemacht. Kundorf ist unser Nachbardorf im Norden. Das war ein Betrieb angemessener Größe, modern geführt, wo ich mich sofort wohl fühlte. Leider war mein Aufenthalt nur von kurzer Dauer. Am 24. Juni wurde der Ort von polnischer Miliz umstellt. Alle Einwohner mussten ihre Wohnungen verlassen und wurden nur mit Handgepäck über die Neiße getrieben ( Entfernung ca. 15 km ).
Von den Polen wurden sämtliche Häuser leer geräumt, geplündert, das Vieh zusammen- und weggetrieben. Ich wollte von unserer Familie aber nicht getrennt werden und musste versuchen, aus dem umstellten Ort herauszukommen. Der auf dem Hofgelände postierte Pole mit Maschinenpistole durfte nicht auf meine Flucht aufmerksam gemacht werden. Die Mitnahme von irgendwelchen Sachen war nicht möglich. Unauffällig ging ich auf den Hof die Pferde zu versorgen. Dabei musste ich aus der gegenüberliegenden Scheune Stroh beschaffen. Durch das hintere Scheunentor, einen Spalt breit geöffnet, konnte ich entweichen. Nur ca. 50 m davon entfernt begann ein Roggen bestandenes Feld. Da erst angekommen, war man in gebückter Haltung außer Sichtweite. Am Ende der Getreideparzelle begann ein für Verteidigungszwecke angelegter Schützengraben in Nord-Süd-Richtung verlaufend bis an ein kleines Wäldchen unterhalb unseres Dorfes gelegen. Der im Zickzack verlaufende Graben bot genügend Schutz. Nach Durchqueren des Wäldchens waren es nur noch ca 700 m bis zu unserem Anwesen. Mit etwas Herzklopfen war das aber überstanden.
Unser Ort wurde nicht entvölkert und die Bewohner über die Neiße getrieben. Scheinbar war man sich nicht im klaren, ob der so dicht an der böhmischen Grenze liegende Ort möglicherweise zum tschechisch beanspruchten Gebiet gehörte. Kurze Zeit später aber wurden die einzelnen Anwesen im Dorf nacheinander mit Polen besetzt. Die deutschen Bewohner wurden vor die Tür gesetzt und hatten keinen Zugang und Verfügungsrecht über ihre Sachen. Nur wenige Dinge, von den Besetzern herausgegeben, konnten mitgenommen werden. Die Unterbringung der ausgesetzten Bewohner erfolgte in kleine Arbeiter- bzw. Altenteilerhäuschen. Dort mussten sich mehrere Familien in den ohnehin schon kleinen und engen Räumlichkeiten zurechtfinden.
Wir, meine Mutter und wir zwei Jungen, 13 und 14 Jahre alt, bekamen eine Dachkammer in einem kleinen Haus, was im ganzen nur drei Zimmer hatte; eigentlich nur zwei, weil Küche und Wohnzimmer zusammenhingen und von einer alten Dame bewohnt wurde.
Meine Großeltern konnten in dem alten, sehr alten und noch mit Strohdach versehenen, nicht mehr bewohnten und zu unserem Anwesen gehörenden Haus in noch einem einigermaßen bewohnbaren Zimmer unterkommen.
So halbwegs geordnet wie bei der russischen Besatzung ging es bei den Polen nicht zu. Sehr oft wurden Deutsche von oft unter Alkohol stehenden Polen verprügelt und mehrere Tage eingesperrt und misshandelt. Auch meiner Großmutter erging es so. Weshalb sie von der polnischen Miliz abgeholt wurde, ist mir nicht bekannt. Nach dreitägiger Haft kam sie mit verschwollenem Gesicht und etlichen Blutergüssen am Körper zurück, wurde vor Ort noch geschlagen und sollte versteckte Gegenstände preisgeben.
Im September 1945 wurde ich auf das von dem polnischen Bürgermeister ( Soltys ) übernommene Anwesen Hain-Schulze beordert. Da bekam ich ein Gespann Pferde und musste neben in der Landwirtschaft anfallenden Dingen in erster Linie Fuhren zum ca. 17 km entfernten Laubaner Bahnhof erledigen. Lauban war der nächstgelegene Bahnhof. Die Strecke Görlitz – Seidenberg – Reichenberg war stillgelegt. Personen, die den Zug benutzen wollten, mussten dorthin oder von dort abgeholt werden.
Solange man polnisch oder russisch sprechende Fahrgäste bei sich hatte, gab es keine Probleme. Schwieriger war es bei Leerfahrten, die zum Teil auch nachts erfolgten. Es ist öfter vorgekommen, dass deutschen Fahrern die Pferde weggenommen wurden. Wenn sie dabei ohne eine Tracht Prügel davon kamen, hatten sie Glück. Auf eventuell gefährdeten und unübersichtlichen Wegabschnitten wurde daher scharfer Trab gefahren.
Eine Fahrt bleibt in besonderer Erinnerung. Anfang Januar hatte ich einen russischen Offizier zum Bahnhof zu bringen. Es war sehr kalt und Glatteis auf den Straßen. Abgestreute Straßen gab es nicht. Trotz scharfer, in die Hufeisen eingeschraubter Stollen, rutschten die Pferde auf der spiegelblanken Fahrbahn und hatten Last, sich auf den Beinen zu halten. Sie lagen so schwer auf den Zügeln, dass die Arme schmerzten. Zudem drängte der Russe auf schnelleres Fahren, damit er den Zug nicht verpasste. Die Abfahrt war kurz nach Mitternacht. Das Trabfahren war eine riskante, mit Sturzgefahr verbundene gefährliche Sache. Es ist gut gegangen. Die Pferde waren total erschöpft.
An die Rückfahrt bei den Bedingungen mochte ich nicht denken. Mit Hilfe des russischen Offiziers, der recht gut deutsch sprach, konnte eine Ausspannmöglichkeit geschaffen werden. Am Bahnhof standen unter mehreren auch ein Gespann einer russischen Dienststelle. An das hatte ich mich anzuhängen. Der Fahrer war wie ich Deutscher. Nach wenigen Kilometern außerhalb der Stadt war deren Standort erreicht. Die Pferde wurden ausgespannt und kamen in einen größeren Stall, in dem schon acht ganz erstklassige Pferde standen. Die Stallwache übernahm die Pferde und versorgte sie. Ich selbst konnte in einem angenehm temperierten Zimmer übernachten.
Am nächsten Morgen, ohne dass ich mich um meine Pferde kümmern musste, bekam ich ein ordentliches Frühstück und konnte dann die Heimfahrt antreten.
Eine weitere Begebenheit ist vielleicht erwähnenswert. Nach einer spätabendlichen Bahnhofsfahrt und in der Nacht zum Sonntag erst zurückgekommen, sollte ich laut Herrn Schulze, dem vormaligen Eigentümer der Stelle, auf der ich beschäftigt war, bei der Heuernte an dem Tag mitarbeiten. Ich habe das abgelehnt, weil ich meinte, wenn man bis spät in der Nacht unterwegs war und auch am Sonntag für die Versorgung der Pferde zuständig ist, sollten mir auch ein paar Sonntagsstunden zustehen. Kurze Zeit darauf erschien dann der Pole, mein sogenannter Arbeitgeber, und verlangte massiv den Arbeitseinsatz von mir. Es hatte der Herr Schulze, der schon dafür bekannt war, sich bei dem Polen lieb Kind zu machen, mich angeschwärzt. Ich habe auch da widersprochen und mich geweigert und ihm im Wortwechsel zu verstehen gegeben, selbst bei meiner Erschießung würde ich die Meinung nicht ändern. Seine Pistole hatte er immer umgehängt!
Ich war ganz fest entschlossen, mich nicht zu beugen, ganz gleich was geschehen würde. Mir war durchaus bewusst, dass bei dieser Situation einem Deutschen gegenüber der Waffengebrauch gegeben war. Ohne darauf weiter zu bestehen die Arbeit aufzunehmen, verließ er mich letztlich. Eine Bestrafung erfolgte aber nicht.
Einige Wochen zuvor wurde mir beim Warten in der Mühle des Nachbarortes von der polnischen Miliz mit drohender Maschinenpistole befohlen, zwei Tote zu bergen. Ein altes deutsches Ehepaar war in der Nacht zuvor auf ihrem Nachhauseweg vom Nachbarhaus, weniger als 200 Meter entfernt, erschossen worden. Das war meine erste direkte Begegnung mit toten Menschen. Damals, als 15-jährigen, hat mir das sehr zugesetzt und ich habe lange gebraucht, das zu verarbeiten, weil ich gleichzeitig erkannte, welchen geringen Wert man als Deutscher besaß.

Ausweisungen am 05.Juli 1946

Am 5. Juli 1946 kam es zu einer größeren Ausweisung deutscher Einwohner. Die davon betroffenen Personen wurden namentlich bestimmt und nur wenige Stunden vorher benachrichtigt. Reichlich 80% unserer Dorfbewohner war davon betroffen. Darunter auch meine Großeltern, derzeit 70 und 67 Jahre alt. Mit nur tragbarem Gepäck mussten sie ihre, über Jahrzehnte mühsam aufgebaute Bleibe verlassen. Nach mehreren Wochen, ich glaube im Oktober erst, bekamen wir von ihnen Nachricht, dass sie nach Neustadt bei Hannover verfrachtet wurden.
Nach dem Bürgermeisterwechsel wurde die Stelle, bei der ich war, mit einer anderen polnischen Familie besetzt. Die Pferde kamen weg und ich musste bei der polnischen Familie auf der ehemals Gähler’schen Landwirtschaft arbeiten. Ende September wurden wir des Nachts plötzlich heraus-geklopft. Der polnische Bürgermeister, einen deutschen gab es ja nicht mehr, verlangte Einlass und bestand darauf, dass ich sofort mitkäme. Herr Krull, so sein Name, war für eine harte Gangart bis zur Verabreichung von Schlägen gegen Deutsche bekannt. Ich war mir keiner Verfehlung bewusst, hatte aber ziemlich Sorge, um nicht zu sagen Angst. Unterwegs wurde ich dann gewahr, dass ich ab sofort auf das Anwesen eines alleinstehenden Polen, den man vorübergehend in Gewahrsam genommen hatte, aufzupassen hätte. Dazu gehörte die Versorgung der dort vorhandenen Tiere. Es handelte sich um drei Rinder und einiges Kleinvieh. Milch fiel nur von einer Kuh an, die von uns verwertet werden sollte. Das Melken musste auch durch mich besorgt werden. Auf meinen Einwand, dass ich als Deutscher keine Macht hätte, mich Polen gegenüber zu widersetzen, wurde gesagt, dass ich bei Bedrängnis nur die Tag und Nacht besetzte Miliz-Station, ca. 150 Meter entfernt, benachrichtigen bräuchte.
Auf dem gegenüberliegenden Feldstück erntete täglich ein polnischer Landwirt für sein Vieh Klee zum Füttern. Da ich weiter nichts zu tun hatte, half ich ihm immer beim Aufladen. Dafür konnte ich für das von mir zu versorgende Vieh eine Karre voll Klee mitnehmen.
Die Fütterung mit Klee sorgte für eine reichliche Milchabgabe. Die anfallende Menge war größer als von uns verbraucht werden konnte. Meine Mutter verarbeitete einen Teil zu Butter oder gab Landsleuten davon ab.
Die etwas nähere Bekanntschaft mit dem polnische Landwirt kam uns später sehr zugute. Besagter Mann fuhr uns später ohne Aufforderung mit seinem Gespann bei unserer Aussiedelung bis nach Görlitz in das Sammellager.
Nach mehrmaligen Kontrollbesuchen des Bürgermeisters während meiner Aufsichtsarbeit hatte ich eine gewisse Vertrautheit zu ihm gefunden, dass ich den Mut hatte, ihn um eine etwas bessere Wohnung für uns zu bitten. Ganz überrascht war ich, dass er ohne zu zögern meinem Wunsch nachkam und auch die von mir gewünschte und vorgeschlagene Wohnung akzeptierte. Wir sind dann schnell in das andere Haus eingezogen. Viel zu räumen gab es ja nicht. Außer dem Bettgestell und einem Tisch mit ein paar Stühlen gab es keine Möbel. Jetzt hatten wir wenigstens zwei Zimmer und konnten die, den Winter über äußerst kalte Dachkammer vergessen.
Heizungsmaterial wurde auch in dieser Wohnung reichlich gebraucht. Es waren nur einfach verglaste Fenster vorhanden. Zuhause hätten wir reichlich Feuerung für die Wintermonate gehabt, mussten das alles ja zurücklassen und andere wärmten sich daran. Kohle gab es auch nicht zu kaufen. Wir hätten auch das Geld dafür nicht gehabt. Die Währung war inzwischen auf polnische Sloty umgestellt. Holz oder Holzabfälle musste man sich „besorgen“ ( stehlen ). Wir haben im Winter mit zerstückelten Autoreifen geheizt. Diese mussten ebenfalls „besorgt“ werden.
Ein großer eingezäunter Lagerplatz mit riesigen Stapeln alter Reifen war in der Nähe. Eine Fabrik in Seidenberg verarbeitete diese Gummireifen zu anderen Produkten. Ein in die Umzäunung geschnittenes Loch ermöglichte nachts und möglichst bei Nebel den Zugriff.

Arbeit als Bäckereigehilfe

Ende Oktober endete die mir übertragene Aufsicht für das kleine Anwesen und ich kam als Hilfskraft zu dem Bäcker in unserem Dorf, einem polnischen Bäckermeister, der gleichzeitig Stadtverordneter im nahen Seidenberg, direkt an unser Dorf angrenzend, war. Schon nach wenigen Tagen meiner Tätigkeit, die in erster Linie sich um Dinge der Bevorratung von Heizmaterial für den Backofen und die Versorgung der Tiere drehte ( es wurden Schweine und Hühner gehalten ) musste ich in der Backstube mitarbeiten. Die Arbeit begann damit für mich um zwei Uhr nachts und kam einer Lehre im Bäckerhandwerk gleich. Alle damit verbundenen Arbeiten wurden mir gezeigt und mussten erlernt werden. Anschließend war in der Backstube aufzuräumen, zu säubern, Backbleche putzen und so weiter. Dazu kam, täglich Backwaren in den zweiten Verkaufsraum in die Stadt zu bringen. Das wurde mit einem einfachen Handwagen bewerkstelligt. Am Jahresende kam es zum Umzug der Bäckerei in eine leerstehende, aber völlig ausgeräumte Bäckerei in der Stadt Seidenberg. Außer den vier Wänden des Gebäudes und dem Backofen gab es keinerlei nutzbare Gegenstände. Die gesamten in der Bäckerei gebrauchten Sachen mussten von der Alt-Seidenberger in die Stadtbäckerei gebracht werden. Es lag Schnee und der Transport erfolgte mit einem handgezogenen großen Schlitten. Da es zur Stadt hin bergab ging, war das gut zu bewerkstelligen.
Der Umzug dauerte einige Tage, weil ja immer nur nach der Backtätigkeit Zeit zur Verfügung stand. Der Backbetrieb wurde nicht unterbrochen. Mein Weg bis dahin war aber nun ca. zwei Kilometer weit. Arbeitsbeginn war weiterhin ein Uhr nachts. Das Ausgangsverbot für Deutsche galt jedoch noch immer während der Nacht. Vom Magistrat bekam ich zwar eine schriftliche Ausnahmegenehmigung. Wie viel Wert sie in der Praxis hätte, war jedoch nicht abzuschätzen. Ich habe es nicht darauf ankommen lassen und bin bei mir entgegenkommenden Geräuschen ausgewichen, zum Teil einen Umweg gegangen.
Diese Bäckerei gehörte vormals einer Familie Wittig, sehr gute Bekannte meiner Großeltern Die Entfernung, vom Hinterausgang gerechnet, betrug nur ca. 200 Meter bis zur tschechischen Grenze. In den kalten Nächten kamen die patrouillierenden Grenzpolizisten oft, m sich am warmen Backofen aufzuwärmen. Leider half mir die Bekanntschaft mit diesen Leuten wenig, weil sie nur im Grenzdienst eingesetzt waren.
Der Backofen war ein moderner Dampfbackofen mit zwei Etagen. Wesentlich einfacher in der Handhabung bei geringerem Aufwand als bei dem Alt-Seidenberger. Das Ãœberwechseln in die Bäckerei, wenn von der Nachtarbeit abgesehen wird, war für mich ein großer Vorteil. Ich musste zwar genau wie vorher 12 Stunden tätig sein, war aber in der kalten Jahreszeit immer im Warmen und bekam täglich ein Brot mit nach Hause – in der Zeit eine sehr hoch einzuschätzende Sache.
Und mit dem polnischen Meister, einem sehr korrekten, gerechten, aber auch strengen Mann, war gut auszukommen.
Im Frühjahr 1947 wechselte der mit in der Bachstube arbeitende polnische Geselle in einen anderen Betrieb. Dafür wurde ein polnischer Lehrling eingestellt. Ohne Aufsehen wurde ich in den frei gewordenen Tätigkeitsbereich geschoben. Der junge Pole, nicht wesentlich jünger als ich, stand nun genau genommen unter einem Deutschen. Denn er hatte jetzt die Arbeiten zu erledigen, für die ich bisher zuständig war. Eine für mich nicht besonders beruhigend wirkende Sache.
Der Meister hatte mir vorgeschlagen, dass ich die polnische Staatsangehörigkeit annehmen sollte. Er würde sich dafür einsetzen, dass wir unseren Besitz wieder bekämen. Daran konnte ich nur zweifeln. Auch mit polnischer Staatsangehörigkeit blieb ich landläufig Deutscher und damit Außenseiter. Auch hätte ich bei meinem Großvater dafür kein Verständnis gefunden.
Wenig später, im Mai, bekamen wir Order für die Ausweisung. Ich denke, dass in polnischen Kreisen dieser Termin schon länger feststand und darauf hin mir das Angebot gemacht wurde.
Ãœber den Abtransport nach Westen waren wir in gewisser Weise froh. Denn nur ganz wenige deutsche Familien verblieben noch in der alten Umgebung zurück.

Die Umsiedlung des Willi Zöllner

Meine Umsiedlung vollzog sich folgendermaßen:

Die Zwangsausweisung aus Alt-Seidenberg Kr. Lauban (südöstlich Görlitz an der Tschechischen Grenze gelegen) erfolgte Mitte Mai 1947.
Der Abtransport vollzog sich ab Görtliz in mit 30 Personen beladenen Reichsbahn-Waggons. Die Strecke bis Görlitz musste zu Fuß bewältigt werden. Wir hatten Glück. Ein zwischenzeitlich in unserem Ort angesiedelter polnischer Landwirt erbot sich bereit, uns mit seinem Gespann zu dem ca. 17 km entfernten Sammelplatz zu bringen. Dadurch entgingen wir von herum stromernden, räuberischen Banden belästigt und den ohnehin wenigen erlaubten mitnehmbaren Dingen entledigt zu werden. Ãœber gelegentliche Hilfsleistungen waren wir mit dem Polen bekannt und vertrauenswürdig geworden. Der Kontakt zu der polnischen Familie besteht bis heute.

Die Fahrt ab Görlitz dauerte drei Tage, weil der Zug zwischendurch öfter für längere Zeit auf Abstellgleisen warten musste und endete in Wolfen bei Bitterfeld. Da kamen wir in ein Barackenlager. Mehrere Familien belegten einen Raum. Unserer Familie bestand aus drei Personen (meine Mutter und wir zwei Söhne, 15 und 16 Jahre alt). Hier war eine vierwöchige Quarantäne angeordnet.
Die Verpflegung war nicht üppig, aber geordnet. Es gab morgens eine Kelle Suppe und jeden zweiten Tag eine Brotration.
Nach Ablauf dieser Zeit wurden wir in Privathäuser zwangseingewiesen. Wir bekamen einen Raum in einer ehemaligen Jagdhütte, die von einer älteren Dame bewohnt wurde und am Ortsrand von Hohenlübast (bei Gräfenheinichen) lag.
Die Arbeit: Grubenholz schlagen in dem Forstgebiet Dübener Heide. Die zu fällenden Kiefernbäume standen zu der Zeit im vollen Saft und hatten, auf ca. 2 m abgelängt, ein enormes Gewicht.
Wir waren jetzt auf uns selbst gestellt. Auf die Lebensmittelmarken konnten wir außer Brot (zugeteilt) nichts bekommen. Auch an Kartoffeln war jetzt im Juni – Juli nicht zu kommen (ebenfalls auf Marken, aber ausverkauft. Vorausschauend hatte meine Mutter schon Wochen vor unserer Ausweisung Brotscheiben und geschnittene Möhren getrocknet. Damit konnten wir eine kurze Zeit überbrücken ohne wirklich hungern zu müssen. Eine geeignete Kost für die harte Arbeit jedoch war es nicht.

(Bild 2, Wunstorfer Str. 4, Aufnahme 50er Jahre )
Bild 2, Wunstorfer Str. 4, Aufnahme 50er Jahre

Von einem Arbeitskollegen erfuhr ich über den Besuch seines Schwiegersohns aus Helmstedt ( britisch besetze Zone ), der am Wochenende wieder zurück wollte. Nach einem Gespräch mit ihm konnte ich mich bei seiner Rückreise anhängen, um den Aufenthaltsort meiner Großeltern in Neustadt bei Hannover in der britisch besetzten Zone anzusteuern. Ein Weggehen der gesamten Familie wäre nicht unauffällig gewesen und hätte den Verzicht auf die restliche noch verbliebene Habe bedeutet. Auch wäre das der sich freundlicherweise zum Mitgehen erbietenden Person nicht zuzumuten gewesen.
Die Großeltern wurden ein Jahr zuvor, 1946, zwangsausgewiesen und landeten in Neustadt a. Rbge..
Die Fahrt ging über Halle, Magdeburg, Richtung Helmstedt, Braunschweig, Hannover.
In Marienborn, vor der Zonengrenze (russisch und britisch besetzte Zone), war die Bahnstrecke unterbrochen und Endstation. An der Grenze entlang patrouillierte russisches Militär. Dank bester Orts- und Geländekenntnis des Reisegefährten kamen wir problemlos über die Grenze nach Helmstedt.
In Hannover spät abends angekommen, musste ich bis zum nächsten Tag auf die Abfahrt des ersten Zuges Richtung Neustadt warten. Die Nacht verbrachte ich auf einem Gang zu den Katakomben unter dem hannoverschen Hauptbahnhof (vermittelt durch die Bahnhofmission). Um Schwarzhändler aufzuspüren, gab es in dieser Nacht mehrere Polizeikontrollen.
Am 12. Juli 1947 Ankunft in Neustadt. Die Großeltern bewohnten einen Raum auf dem Dachboden eines mit vier Familien bewohnten Hauses. Es gab weder Wasserleitung noch Abwasserabfluss. Das musste über eine im unteren Geschoss wohnende Familie abgewickelt werden. Auch das Aufsuchen der Toilette konnte nur bei einer der Familien erbeten werden. Es sei denn, man benutzte die ca. 4 Min. entfernt liegende öffentliche Bahnhofseinrichtung.

Mein Großvater war damals 73 Jahre alte, meine Großmutter 65. Sie erhielten Unterhaltshilfe, die später bei der Hauptentschädigung ( Lastenausgleich ) verrechnet wurde. Außerdem machte Großvater Botengänge für eine Wäscherei. Großmutter arbeitete stundenweise in der Landwirtschaft und in einer Gaststätte.

Am folgenden Tag stellte mich meine Oma der Neustädter Familie Nülle vor, die sie durch ihre Arbeiten in der Landwirtschaft kannte und bei der ich Unterkunft bekommen sollte. Ich wurde aufgenommen, bekam ein kleines Zimmer und lebte mit in der Familie. Zu allen, in dem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb anfallenden Arbeiten, wurde ich mit eingeteilt. Da ich in der Landwirtschaft aufgewachsen bin und nach dem Schulende 1945 eine landwirtschaftliche Lehre begonnen hatte, kam mir das ganz entgegen.
Die geringe Größe und die eingeengte Lage der Landwirtschaft im Ortszentrum machte einen hohen Aufwand an Handarbeit erforderlich. Die zu der Zeit einsetzende Mechanisierung war bei der Betriebsgröße ( 6 Kühe, 12 – 20 Schweine ) nicht tragbar. Außer der familiären Arbeitskraft mussten daher alle anderen Kosten klein gehalten werden.
Den täglichen Arbeitsablauf bestimmte in erster Linie die Tierhaltung. Wenn die Milch um 7:00 Uhr zur Abholung bereit stehen musste und das Pferdegespann ebenfalls zu der Zeit einsatzfähig sein sollte, war ein Arbeitsbeginn um spätestens 5:30 Uhr erforderlich. In der Zwischenzeit wurde das morgendliche Frühstück eingenommen.
Danach erfolgten die erforderlichen Arbeiten, jahreszeitlich bedingt unterschiedlicher Art, auf den Feldern. Während dieser Arbeit bis zur Mittagszeit wurde ein mitgenommenes Vepserbrot zur Stärkung verzehrt. Das von der Hausfrau zubereitete Mittagessen wurde gemeinsam und gleichzeitig um 12:00 Uhr eingenommen. Des Nachmittags wurden die Feldarbeiten bis ca. 18:00 Uhr fortgesetzt, danach das Vieh versorgt und gegen 19:00 Uhr Abendbrot gegessen.
Die Verpflegung wurde ausschließlich mit im Betrieb erzeugten Lebensmitteln bestritten. Landwirte galten als Selbstversorger. Sie bekamen keine Bezugskarten für Lebensmittel – Ausnahme war Zucker oder ähnliches.
Selbst bei Feierlichkeiten in der Familie wurde ich nicht ausgegrenzt und kam mit der Verwandtschaft in engen Kontakt. Das brachte mir unter anderem ein aus unterschiedlichen Teilen zusammen gebasteltes Fahrrad ein. Zu der Zeit und für mich ein riesiges Geschenk.

Unser Familienoberhaupt eröffnete mir, dass ich nicht nur Hilfsarbeiter sein könnte, sondern etwas zu lernen hätte. Das Ergebnis: mit Fürsprache konnte ich 1948-1949 das Wintersemester in der Landwirtschaftsschule Neustadt besuchen. Da ich zur Anmeldung weder Zeugnisse noch sonstige Befähigungen nachweisen konnte, war sicherlich das Gespräch der Familie Nülle mit der Schulleitung ausschlaggebend für meine Aufnahme.
Auch im Folgejahr konnte ich, neben ein paar Stunden Mithilfe im landwirtschaftlichen Betrieb die Oberstufe mit einem Abschluss durchlaufen. Das Zusammentreffen mit gleichaltrigen jungen Leuten aus dem gesamten Kreis Neustadt während der Schulzeit galt als positiv.
Auch zu der Vorbereitungsversammlung für die Wiederbelebung des traditionellen Schützenfestes nach dem Kriege wurde ich mitgenommen. Der Betrag von einer Reichsmark Gebühr bei der Eintragung in das Schützenreglementsbuch wurde für mich übernommen. Ich galt also als voll akzeptierter Einwohner.
Alles in Allem kann ich feststellen, dass es keinerlei Probleme bei der Eingewöhnung in das neue Umfeld gegeben hat.

Quellen

1) Vgl. Schneider, Ulrich: Britische Besatzungspolitik 1945, Dissertation Hannover 1980, S. 170f
2) Brieden, Hubert u.a.: Neustadt 1945 – 1949, Neustadt 1987, S. 220
3) Kreisarchiv Hannover, 735, hier: Resolution des Kreistages Neustadt a. Rbge. vom 12.7.1946; abgedruckt bei Brieden, S. 223f
4) Kreisarchiv Hannover, hier: Amtsblatt für den Kreis Neustadt a. Rbge. Nr. 21/12.7.1946; abgedruckt a.a.O.S. 224
5) Kreisarchiv Hannover, Amtsblatt für den Kreis Neustadt a. Rbge. Nr. 39/26.9.1947; abgedruckt bei Brieden, S. 225f
6) Kreisarchiv Hannover, Amtsblatt für den Kreis Neustadt a. Rbge. Nr.43/13.12.1946; abgedruckt bei Brieden, S. 228
7) aus Hubert Brieden, Menschen im Toten Moor, Neustadt 2001, S. 105; für die Kernstadt schätzt er die Zahl von 1500 und damit 30% der Bevölkerung
8) zitiert nach Hartmut Dyck, Barackenlager nach 1945
9) Quelle: Uelschen, G.: Die Bevölkerung Niedersachsens 1821-1961, Hannover 1966, S.2f.
10) Quelle: Krug, M., Mundhenke, K.: Flüchtlinge im Raum Hannover und in der Stadt Hameln 1945-1952, Hildesheim 1988, S.15
11) Quelle: Douglas, R.M., Ordnungsgemäße Ãœberführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, 2. Auflg. München 2012, S. 17
12) Quelle: Aust, S., Burgdorff, S. (Hrsg.): Die Flucht, Bonn 2005, S. 249
13) Quelle: Wenzel, R.: Die große Verschiebung:Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland. Stuttgart 2008
14) Quelle: Wohnungsdirektive 11 vom 28.9.1946 in: Kreisarchiv Hannover, Amtsblatt für den Kreis Neustadt a.Rbg. Nr.38/8.11.1946
15) Quelle: (Protokoll des Wohnungsausschusses Neustadt am Rübenberge Nr. 29 vom 1.3.49
16) Quelle: Leine Anzeiger vom 16.12.1949
17) Quelle: Leine-Anzeiger vom 29.11.1949
18) Quelle: Protokoll des Wohnungsauschusses Neustadt am Rübenberge vom 6.7.1950
19) Quelle: Dyck, H., Baracken und Notunterkünfte. In Geschichte, Mythen, Fakten. Historisches über Neustadt auf ruebenberge.de
20) Quelle: Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 22.8.1947
21) Quelle: Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 11. November 1947
22) Quelle: Protokoll der Grund- und Gemeindekommission vom 17.1.1949)Eine ordnungsgemäße Bewirtschaftung der Gärten wurde streng kontrolliert, nicht bestellte oder verwahrloste Gärten sofort entzogen. Verkrautetes Land oder nur mit Kartoffeln oder Rüben bepflanzte Gartengrundstücke mussten zurückgegeben werden.(Quelle: Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 1.8.1947
23) Quelle: Jahre des Hastens und Jagens, Ausstellung vom 29.9.1995-24.11.1995, Archiv des Landkreises Hannover, Seite 11
24) Quelle: Leine Anzeiger vom 15.12.1949
25) Quelle: Herausgeber Bundesministerium für Arbeit, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1946-1950, Bonn 1950
26) Quelle: ebenda Hrsg. Bundesministeriums für Arbeit, Bonn 1950
27) Quelle: Leine Anzeiger vom 30.9.1949
28) Quelle: ebenda Herausgeber Bundesministerium für Arbeit, Bonn 1950