Fremde Heimat – Vertriebene in einer ländlich strukturierten Region. Erinnerungen von Ursula Ramm und Magdalena Staab. Moderation: Ingeborg Koslowski
Neustadt 11. Juni 2015 (von links: Ursula Ramm. Ingeborg Koslowski, Magdalena Staab)
Ingeborg Koslowski:
Die soziale und kulturelle Integration gelang in Deutschland erstaunlich schnell, trotz vieler Unterschiede. Im Bundesvertriebenengesetz von 1953 war der Paragraph 96 mitentscheidend,der zur Sicherung und Erhaltung des Kulturguts der Vertriebenen verpflichtete.
Die Wahrung des kulturellen Erbes war ein Ziel vieler Heimatverbände, deren Mitglieder nach der Vertreibung aus der Heimat einen Platz suchten, um die Erinnerungen zu pflegen und zu wahren. Schon früh begannen sich die Heimatvertriebenen zu sammeln und zu organisieren, nachdem das 1946 von den Alliierten erlassene Koalitionsverbot stückweise seit 1948 aufgehoben worden war. Man hatte keine Angst mehr vor einer Radikalisierung von Millionen von Heimatlosen, insbesondere nach der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950, in der festgeschrieben wurde, dass man auf Rache und Vergeltung verzichte. Das war meines Erachtens ein bemerkenswerter Vorgang nur 5 Jahre nach Beendigung des Krieges und der Vertreibung.
Bis 1994 befand sich in Neustadt die Heimatstube der Seidenberger unter der Patenschaft der Stadt Neustadt. Danach wurden die Museumsstücke nach Görlitz geschickt, wo sie bis heute in einem Museum aufbewahrt werden.
Aber auch Sportvereine spielten eine nicht unerhebliche Rolle für die soziale Integration der Heimatvertriebenen.
„Die Sportvereine bringen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität zusammen und vermitteln Werte, die für unsere Gesellschaft von grundlegender Bedeutung sind“, so Staatssekretär Jürgen Häfner 2011 in Oppenheim bei der Verleihung der Sportplakette des Bundespräsidenten an 28 Sportvereine.
Ursula, kannst du uns einerseits etwas über deine Zeit im Sportverein Neustadt sagen, hat es dir die Integration hier in Neustadt einfacher gemacht? Und andererseits etwas über die Seidenberger. Gibt es heute noch Zusammenkünfte von Seidenbergern, auch in der nachfolgenden Generation ?
Ursula Ramm:
Wir Kinder und Jugendliche fanden hier im Sportverein, Schwimmverein und bei der Pfadfinderschaft eine sogenannte „sportliche Heimat“.
Das Tagebuch berichtet:
„24. März 1948. Christoph fährt mit der Evangelischen Jungenschaft nach Polle für 5 Tage.
30. März 1948. Abends um halb 11 kommt Christoph von der Fahrt zurück, es hat ihm sehr gut gefallen und bringt die ganze Essware, Brot, Butter und Kuchen, die wir ihm mitgaben, wieder zurück, da sie dort gut verpflegt wurden.“
Seidenberger Treffen
Neustadt am Rübenberge war für die vertriebenen Seidenberger und die er umliegenden Kirchspieldörfer ein fester Beziehungspunkt, da die mit dem Vertreibungstransport im 10.Juli 1946 in Wunstorf Angekommen in der Stadt und den umliegenden Dörfern verteilt wurden. Kontakte mit allen Heimatfreunden schufen Heimatfreunde mit der Herausgabe eines Rundbriefes. Der erste erschien am 8. November 1947. Bald wurde auch die erste Heimatzeitschrift „Rund um den Burgsberg“ noch vor der Währungsreform 1948 gegründet.
Alle Familienereignisse wie Geburtstage, Hochzeiten, Todesfälle erschienen in diesem Blatt, sowie Ankündigungen über Heimattreffen. Im Jahr 1946 übernahm der Goldammer-Verlag dieses Blatt.
Viele Jahre wurden diese Nachrichten in vorbildlicher Arbeit von Frau Charlotte Adler gesammelt und monatlich an das „Laubaner Tageblatt“ zur Veröffentlichung weiter geleitet. Und das alles mit Schreibmaschine, neben ihrer Arbeit beim AWO Kindergarten, ohne Computer. Dazu gehörte für sie auch eine zeitraubende Korrespondenz mit den Heimatfreunden.
Heute sind alle Geburtstagsdaten digitalisiert.
Im Monat Mai 1949 fand das erste große Heimattreffen der Seidenberger in der Neustädter Turnhalle Lindenstrasse statt und es wurde für viele Heimatfreunde die erste Begegnung nach dem Kriege.
Das Tagebuch berichtet:
„Heut steigt unser Heimatabend in der hiesigen Turnhalle. Der Saal ist bis auf den aller letzten Platz besetzt, ein guter Erfolg; über 500 Personen sind da. Wir kommen erst früh um 6 Uhr nach Hause.“
Dieses Treffen wurde in den folgenden Jahren eine bleibende Einrichtung und wurde bis zum Jahr 2009 als „Seidenberger Kirmes“ am letzten Sonnabend im September in Neustadt a. Rbge. und nach der Wende in Görlitz und in Seidenberg/Zawidow gefeiert.
Seit dem 15. September 1955 ist die Stadt Neustadt a. Rbge. die Patenstadt von Seidenberg O.L. und den umliegenden Dörfern. Ganz besondere Bedeutung hat die Patenschaft durch die Einrichtung der „Seidenberger Heimatstube“ im Jahr 1979 gefunden. Dank finanzieller Unterstützung der Stadt Neustadt a. Rbge. und Spenden von Seidenberger Heimatfreunden war die Einrichtung und der Erwerb von Bild- und Dokumentenmaterial möglich. Ein weiterer Ausdruck der Verbundenheit mit der schlesischen Patenstadt ist die Umbenennung einer Straße in Neustadt a. Rbge. in „Seidenberger Straße“.
Nach der Wende 1989 nahm die Stadt Neustadt Kontakt mit Seidenberg, die heute polnisch Zawidow heißt, auf. Den ersten offiziellen Empfang gab es am 29. September 1991 mit den Vertretern beider Städte, zu denen auch alle mitgereisten Heimatfreunde der ehemaligen Stadt Seidenberg eingeladen waren.
Heute vermittelt eine freundschaftliche Verbundenheit der Familien von Zawidow und den ehemaligen Bewohnern von Seidenberg ein Bild der Versöhnung. Und eine herzliche Gastfreundschaft empfängt die ehemaligen Bewohner bei ihren Besuchen.
Ingeborg Koslowski:
Magdalena, viele Vertriebene fanden zuerst in den Kirchen den Anschluss an die neue Heimat; insbesondere in der katholischen Kirche mit ihren bekannten Riten. Du hast mir von deinen Eltern darüber erzählt. Wie war das damals ? An was kannst du dich erinnern?
Magdalena Staab:
Für die Eltern war die katholische Kirche ein Ort der Identität und Integration.
Meine Mutter stammte aus dem katholischen Oberschlesien, Vater gehörte als Katholik im protestantischen Seidenberg einer Minderheit an. Beide hatten sich unter diesen Vorzeichen kennen gelernt und fanden in Neustadt eine ähnliche Situation vor.
Ãœber die neuen politischen Grenzen hinweg bildete der katholische Glaube eine Verbundenheit mit den Verwandten hinter dem „Eisernen Vorhang“ und war ihnen Stärkung und Trost.
Die barocken Formen schlesischer Glaubensausübung zeigten sich an kirchlichen Hochfesten. Im Mai bei Maiandachten erfüllten gebundene Girlanden, Birken, Flieder, Maiglöckchen den Kirchenraum mit Duft und Pracht. Es gab Liturgien mit Weihrauch und die Fronleichnamsprozession mit Blasmusik durch den Pfarrgarten. Neustädter Schulkinder bezeichneten diese als „Schützenfest der Katholischen“.
Das Hildesheimer Gebet- und Gesangbuch, „Canta Bona“ erschien 1951 mit einem Anhang ostdeutscher Kirchenlieder.
In der Fortführung dieser gewohnten Rituale fanden die Eltern in der Fremde eine Form der emotionalen Bewältigung ihrer erlittenen Verluste.
Schon bald gab es erste „Mischehen“, sowohl zwischen Protestanten und Katholiken, die damals sehr behindert wurden, als auch zwischen Einheimischen und Vertriebenen.
Die Ankunft der Vertriebenen im Westen sollte das konfessionelle Antlitz der BRD verändern, wie seit der Reformation und dem 30jährigen Krieg nicht mehr.