Willi Zöllner: Besetzung und Ausweisung

Erlebnisse aus meiner Jugendzeit

von Willi Zöllner

1945 Schulentlassung Volksschule Alt-Seidenberg – Schulentlassung, die nicht mehr stattfand

Schon ab Anfang Februar gab es keinen Unterricht mehr. Durch das Vordringen der Russen bis Lau­ban, ca. 17 km von uns entfernt, gab es eine Evakuierung von außerorts stammenden Personen. Zum Beispiel Frauen und Kinder, die aus dem von Bomben bedrohten Rheinland in unserem Dorf Unterkunft gefunden hatten. Und auch unsere Lehrerin, Fräulein Raupach, sie stammte aber nicht aus dem Rheinland, zog es scheinbar zu ihrer Familie.
Nachdem die Russen noch im Februar zurück gedrängt sind, die Kampffront weiter nach Osten ver­legt wurde, gab es keinen Unterricht mehr. Das hatte zur Folge, dass wir keine Abgangszeugnisse bekamen.
Meine Konfirmation fand ohne die sonst übliche Prüfung in der Seidenberger Kirche statt. Später, nach der Übernahme durch die Polen, wurde diese Kirche abgerissen. Ein Konfirmationsanzug war in dieser Zeit nicht zu kaufen. Meine Mutter hat für mich einen dunklen Anzug vom Sohn der Frau Rönsch, der erst wenige Monate zuvor im Krieg gefallen war, erstanden. Frau Rönsch hat sich sehr schwer getan, sich von dem Kleidungsstück ihres einzigen Sohnes zu trennen.
Am 1.April 1945 begann ich die Landarbeitslehre bei Herrn Meusel in Oberlinde. Der Betrieb war nicht sehr groß. Es waren ein Pferd, fünf Kühe und das entsprechende Kleinvieh vorhanden.
Oberlinde liegt etwa auf halbem Wege zwischen Seidenberg und Lauban. Wie die Auswahl dieser Lehrstelle zustande gekommen ist, kann ich nur vermuten. Bei der bereits 1944 statt gefundenen Berufswunsch-Erklärung habe ich bei den bis zu drei Berufen folgende Reihenfolge gewählt: Land­wirt, Bäcker, Sattler. Im sogenannten Dritten Reich wurde über den Reichsnährstand dem Bauern­stand große Bedeutung zugemessen. Folglich wurde meinem ersten Wunsch auch entsprochen.
Wie aus dem damals abgeschlossenen Lehrvertrag ersichtlich, war die Kreisbauernschaft maßgebend für die landwirtschaftliche Ausbildung. Im Kopf des Lehrvertrages steht folgender Satz: „Das Ausbil­dungsziel ist ein beruflich tüchtiger, körperlich gesunder und fest im Nationalsozialismus stehender Nachwuchs“. Der Lehrherr, Herr Meusel, war NSDAP-Mitglied und als solches mehrmals in Partei­uniform mit Hakenkreuzbinde unterwegs. Es ist anzunehmen, dass die Ausbildung vorzugsweise in die Hände besonders aktiver Parteimitglieder gelegt wurde.
Bei meinem Lehrantritt am 1. April lag eine Sturmgeschütz-Einheit der Wehrmacht vor Ort. Die war einige Wochen zuvor bei der Zurückschlagung der russischen Front bei Lauban im Einsatz be­teiligt. An der von Oberlinde nach Lauban durch den Hochwald führenden Straße waren an den Bäumen in ca. zwei Meter Höhe Sprengladungen angebracht, die bei Bedarf gezündet und die Fahr­bahn unpassierbar machen konnten.
Unerklärlich ist mir bis heute, wie man einen 14-jährigen Jugendlichen, nämlich mich, gleich nach der Schule in die unmittelbare Nähe des nicht weit entfernten Kampfbereiches mit der russischen Armee schicken konnte.
Nach dem täglichen Arbeitsablauf, wenn abends Ruhe einkehrte, hatte ich ziemlich Heimweh. Jedes zweite Wochenende konnte ich nach Hause radeln. Das war ein ersehnter Tag. Am 5. und 6. Mai hatte ich wieder mein freies Wochenende. Da wurde schon gemunkelt, der Russe wäre wieder im Vormarsch. – Ich habe meine Lehrstelle nicht wieder aufgesucht.

Am 6. Mai bekamen wir Order, unser Anwesen in Alt-Seidenberg zu verlassen. Unsere Gebäude la­gen auf einer leichten Anhöhe und im Schussbereich der Artillerie.

Anwesen der Zöllner-Familie in Alt-Seidenberg, Aufnahme ca. und 1972 beim Besuch der polnischen Bewohner

Russische Besetzung

Am 7. Mai gegen 18 Uhr kamen die ersten russischen Soldaten in unser Dorf. Es gab kaum Kampf­handlungen. Auf dem Rittergut war anfangs noch ein Pak-Geschütz postiert, was aber bald aufgab. Am folgenden Tag, dem 8. Mai, hörten wir im Radio von der Kapitulation. Auf dem Rittergut wur­de eine russische Kommandantur eingerichtet. Sämtliche Pferde des Dorfes wurden beschlagnahmt. Plünderungen in unserem Dorf waren nicht bekannt. Eine nächtliche Ausgangssperre für Deutsche wurde verhängt. Schon kurze Zeit nach dem Einmarsch ernannte der russische Kommandant einen neuen deutschen Gemeindevorsteher und sorgte dafür, dass Familien mit Kindern regelmäßig Milch bekamen. Mehrmals ist vorgekommen, dass betrunkene Russen deutsche Frauen des nachts beläs­tigten und auch vergewaltigten. Das hatte zur Folge, dass der russische Kommandant eine nächtli­che Patrouille aus deutschen Ortsleuten einrichtete. Ausgerüstet war die zu je zwei Mann mit einem Feuer-Signalhorn (Tute) und hatten bei der Kommandantur Meldung zu machen. Alle drei Stunden wurde abgelöst. Es ist nicht bekannt, dass es danach noch Zwischenfälle gegeben hat.
Die russische Einheit besaß über eintausend Pferde und lagerte in dem Wiesental zwischen Alt-Sei­denberg und Göht, wo der derzeitige Bachlauf die Ortsgrenze und gleichzeitig die Grenze zu Böh­men war. Die Futterversorgung für so viele Tiere war nicht einfach. Deshalb wurden viele Pferde, die nicht direkt zum Tross gehörten, frei laufen gelassen, um sich selbst zu verpflegen. Das hatte zur Folge, dass sich Trupps von 10 – 20 Tieren bildeten, durch die Felder zogen und sich in dem jungen auf­wachsenden Getreide sättigten und dabei entsprechend hohen Schaden anrichteten. Ärgerlich war es, mit ansehen zu müssen, dass viele Pferde ohne Nutzen in der Gegend umherliefen, Schaden ver­ursachten, wogegen im Ort keine Zugtiere für die erforderlichen Arbeiten zur Verfügung standen.
Zusammen mit ein paar jungen Leuten haben wir dann von den am weitesten von dem russischen Lager entfernten Pferden einige in unser Dorf getrieben, eingefangen und an Interessierte weiterge­geben. Wir haben das mehrmals getan, weil in Abständen die Russen unsere eingefangenen Pferde wieder wegnahmen. Zu einer Bestrafung kam es allerdings nicht.
Mehrmals wurden große Rinderherden in Richtung Osten vorbei getrieben ( zusammen getriebenes Beutevieh ). Besonders bedrückend war, wenn Kolonnen deutscher Kriegsgefangener ebenfalls in Richtung Osten vorbeizogen und wie Vieh behandelt wurden. Da war es ratsam, als männliche Per­son sich nicht zu zeigen. Es bestand die Gefahr, mit eingereiht zu werden, um die unterwegs durch Entkräftung umgefallenen, dann erschlagenen oder erschossenen Soldaten stückzahlenmäßig wieder auszugleichen.

Polnische Übergangszeit

Die russische Besatzung blieb bis Mitte Juni und wurde gegen polnische ausgetauscht. Für Anfang Juni hatten meine Großeltern für mich eine Stelle bei Landwirt Gebauer in Kundorf ausgemacht. Kundorf ist unser Nachbardorf im Norden. Das war ein Betrieb angemessener Größe, modern ge­führt, wo ich mich sofort wohl fühlte. Leider war mein Aufenthalt nur von kurzer Dauer. Am 24. Juni wurde der Ort von polnischer Miliz umstellt. Alle Einwohner mussten ihre Wohnungen verlas­sen und wurden nur mit Handgepäck über die Neiße getrieben ( Entfernung ca. 15 km ).
Von den Polen wurden sämtliche Häuser leer geräumt, geplündert, das Vieh zusammen- und wegge­trieben. Ich wollte von unserer Familie aber nicht getrennt werden und musste versuchen, aus dem umstellten Ort herauszukommen. Der auf dem Hofgelände postierte Pole mit Maschinenpistole durfte nicht auf meine Flucht aufmerksam gemacht werden. Die Mitnahme von irgendwelchen Sa­chen war nicht möglich. Unauffällig ging ich auf den Hof die Pferde zu versorgen. Dabei musste ich aus der gegenüberliegenden Scheune Stroh beschaffen. Durch das hintere Scheunentor, einen Spalt breit geöffnet, konnte ich entweichen. Nur ca. 50 m davon entfernt begann ein Roggen bestan­denes Feld. Da erst angekommen, war man in gebückter Haltung außer Sichtweite. Am Ende der Getreideparzelle begann ein für Verteidigungszwecke angelegter Schützengraben in Nord-Süd-Rich­tung verlaufend bis an ein kleines Wäldchen unterhalb unseres Dorfes gelegen. Der im Zickzack verlaufende Graben bot genügend Schutz. Nach Durchqueren des Wäldchens waren es nur noch ca 700 m bis zu unserem Anwesen. Mit etwas Herzklopfen war das aber überstanden.
Unser Ort wurde nicht entvölkert und die Bewohner über die Neiße getrieben. Scheinbar war man sich nicht im klaren, ob der so dicht an der böhmischen Grenze liegende Ort möglicherweise zum tschechisch beanspruchten Gebiet gehörte. Kurze Zeit später aber wurden die einzelnen Anwesen im Dorf nacheinander mit Polen besetzt. Die deutschen Bewohner wurden vor die Tür gesetzt und hatten keinen Zugang und Verfügungsrecht über ihre Sachen. Nur wenige Dinge, von den Besetzern herausgegeben, konnten mitgenommen werden. Die Unterbringung der ausgesetzten Bewohner er­folgte in kleine Arbeiter- bzw. Altenteilerhäuschen. Dort mussten sich mehrere Familien in den oh­nehin schon kleinen und engen Räumlichkeiten zurechtfinden.
Wir, meine Mutter und wir zwei Jungen, 13 und 14 Jahre alt, bekamen eine Dachkammer in einem kleinen Haus, was im ganzen nur drei Zimmer hatte; eigentlich nur zwei, weil Küche und Wohn­zimmer zusammenhingen und von einer alten Dame bewohnt wurde.
Meine Großeltern konnten in dem alten, sehr alten und noch mit Strohdach versehenen, nicht mehr bewohnten und zu unserem Anwesen gehörenden Haus in noch einem einigermaßen bewohnbaren Zimmer unterkommen.
So halbwegs geordnet wie bei der russischen Besatzung ging es bei den Polen nicht zu. Sehr oft wurden Deutsche von oft unter Alkohol stehenden Polen verprügelt und mehrere Tage eingesperrt und misshandelt. Auch meiner Großmutter erging es so. Weshalb sie von der polnischen Miliz abge­holt wurde, ist mir nicht bekannt. Nach dreitägiger Haft kam sie mit verschwollenem Gesicht und etlichen Blutergüssen am Körper zurück, wurde vor Ort noch geschlagen und sollte versteckte Ge­genstände preisgeben.
Im September 1945 wurde ich auf das von dem polnischen Bürgermeister ( Soltys ) übernommene Anwesen Hain-Schulze beordert. Da bekam ich ein Gespann Pferde und musste neben in der Landwirtschaft anfallenden Dingen in erster Linie Fuhren zum ca. 17 km entfernten Laubaner Bahnhof erledigen. Lauban war der nächstgelegene Bahnhof. Die Strecke Görlitz – Seidenberg – Reichenberg war stillgelegt. Personen, die den Zug benutzen wollten, mussten dorthin oder von dort abgeholt werden.
Solange man polnisch oder russisch sprechende Fahrgäste bei sich hatte, gab es keine Probleme. Schwieriger war es bei Leerfahrten, die zum Teil auch nachts erfolgten. Es ist öfter vorgekommen, dass deutschen Fahrern die Pferde weggenommen wurden. Wenn sie dabei ohne eine Tracht Prügel davon kamen, hatten sie Glück. Auf eventuell gefährdeten und unübersichtlichen Wegabschnitten wurde daher scharfer Trab gefahren.
Eine Fahrt bleibt in besonderer Erinnerung. Anfang Januar hatte ich einen russischen Offizier zum Bahnhof zu bringen. Es war sehr kalt und Glatteis auf den Straßen. Abgestreute Straßen gab es nicht. Trotz scharfer, in die Hufeisen eingeschraubter Stollen, rutschten die Pferde auf der spie­gelblanken Fahrbahn und hatten Last, sich auf den Beinen zu halten. Sie lagen so schwer auf den Zügeln, dass die Arme schmerzten. Zudem drängte der Russe auf schnelleres Fahren, damit er den Zug nicht verpasste. Die Abfahrt war kurz nach Mitternacht. Das Trabfahren war eine riskante, mit Sturzgefahr verbundene gefährliche Sache. Es ist gut gegangen. Die Pferde waren total erschöpft.
An die Rückfahrt bei den Bedingungen mochte ich nicht denken. Mit Hilfe des russischen Offiziers, der recht gut deutsch sprach, konnte eine Ausspannmöglichkeit geschaffen werden. Am Bahnhof standen unter mehreren auch ein Gespann einer russischen Dienststelle. An das hatte ich mich anzu­hängen. Der Fahrer war wie ich Deutscher. Nach wenigen Kilometern außerhalb der Stadt war de­ren Standort erreicht. Die Pferde wurden ausgespannt und kamen in einen größeren Stall, in dem schon acht ganz erstklassige Pferde standen. Die Stallwache übernahm die Pferde und versorgte sie. Ich selbst konnte in einem angenehm temperierten Zimmer übernachten.
Am nächsten Morgen, ohne dass ich mich um meine Pferde kümmern musste, bekam ich ein or­dentliches Frühstück und konnte dann die Heimfahrt antreten.
Eine weitere Begebenheit ist vielleicht erwähnenswert. Nach einer spätabendlichen Bahnhofsfahrt und in der Nacht zum Sonntag erst zurückgekommen, sollte ich laut Herrn Schulze, dem vormali­gen Eigentümer der Stelle, auf der ich beschäftigt war, bei der Heuernte an dem Tag mitarbeiten. Ich habe das abgelehnt, weil ich meinte, wenn man bis spät in der Nacht unterwegs war und auch am Sonntag für die Versorgung der Pferde zuständig ist, sollten mir auch ein paar Sonntagsstunden zu­stehen. Kurze Zeit darauf erschien dann der Pole, mein sogenannter Arbeitgeber, und verlangte massiv den Arbeitseinsatz von mir. Es hatte der Herr Schulze, der schon dafür bekannt war, sich bei dem Polen lieb Kind zu machen, mich angeschwärzt. Ich habe auch da widersprochen und mich ge­weigert und ihm im Wortwechsel zu verstehen gegeben, selbst bei meiner Erschießung würde ich die Meinung nicht ändern. Seine Pistole hatte er immer umgehängt!
Ich war ganz fest entschlossen, mich nicht zu beugen, ganz gleich was geschehen würde. Mir war durchaus bewusst, dass bei dieser Situation einem Deutschen gegenüber der Waffengebrauch gege­ben war. Ohne darauf weiter zu bestehen die Arbeit aufzunehmen, verließ er mich letztlich. Eine Bestrafung erfolgte aber nicht.
Einige Wochen zuvor wurde mir beim Warten in der Mühle des Nachbarortes von der polnischen Miliz mit drohender Maschinenpistole befohlen, zwei Tote zu bergen. Ein altes deutsches Ehepaar war in der Nacht zuvor auf ihrem Nachhauseweg vom Nachbarhaus, weniger als 200 Meter entfernt, erschossen worden. Das war meine erste direkte Begegnung mit toten Menschen. Damals, als 15-jährigen, hat mir das sehr zugesetzt und ich habe lange gebraucht, das zu verarbeiten, weil ich gleichzeitig erkannte, welchen geringen Wert man als Deutscher besaß.

Ausweisungen am 05.Juli 1946

Am 5. Juli 1946 kam es zu einer größeren Ausweisung deutscher Einwohner. Die davon betroffenen Personen wurden namentlich bestimmt und nur wenige Stunden vorher benachrichtigt. Reichlich 80% unserer Dorfbewohner war davon betroffen. Darunter auch meine Großeltern, derzeit 70 und 67 Jahre alt. Mit nur tragbarem Gepäck mussten sie ihre, über Jahrzehnte mühsam aufgebaute Blei­be verlassen. Nach mehreren Wochen, ich glaube im Oktober erst, bekamen wir von ihnen Nach­richt, dass sie nach Neustadt bei Hannover verfrachtet wurden.
Nach dem Bürgermeisterwechsel wurde die Stelle, bei der ich war, mit einer anderen polnischen Fa­milie besetzt. Die Pferde kamen weg und ich musste bei der polnischen Familie auf der ehemals Gähler’schen Landwirtschaft arbeiten. Ende September wurden wir des Nachts plötzlich heraus-geklopft. Der polnische Bürgermeister, einen deutschen gab es ja nicht mehr, verlangte Einlass und bestand darauf, dass ich sofort mitkäme. Herr Krull, so sein Name, war für eine harte Gangart bis zur Verabreichung von Schlägen gegen Deutsche bekannt. Ich war mir keiner Verfehlung bewusst, hatte aber ziemlich Sorge, um nicht zu sagen Angst. Unterwegs wurde ich dann gewahr, dass ich ab sofort auf das Anwesen eines alleinstehenden Polen, den man vorübergehend in Gewahrsam genommen hatte, aufzupassen hätte. Dazu gehörte die Versorgung der dort vorhandenen Tiere. Es handelte sich um drei Rinder und einiges Kleinvieh. Milch fiel nur von einer Kuh an, die von uns verwertet werden sollte. Das Melken musste auch durch mich besorgt werden. Auf meinen Einwand, dass ich als Deutscher keine Macht hätte, mich Polen gegenüber zu widersetzen, wurde gesagt, dass ich bei Bedrängnis nur die Tag und Nacht besetzte Miliz-Station, ca. 150 Meter entfernt, benachrichtigen bräuchte.
Auf dem gegenüberliegenden Feldstück erntete täglich ein polnischer Landwirt für sein Vieh Klee zum Füttern. Da ich weiter nichts zu tun hatte, half ich ihm immer beim Aufladen. Dafür konnte ich für das von mir zu versorgende Vieh eine Karre voll Klee mitnehmen.
Die Fütterung mit Klee sorgte für eine reichliche Milchabgabe. Die anfallende Menge war größer als von uns verbraucht werden konnte. Meine Mutter verarbeitete einen Teil zu Butter oder gab Landsleuten davon ab.
Die etwas nähere Bekanntschaft mit dem polnische Landwirt kam uns später sehr zugute. Besagter Mann fuhr uns später ohne Aufforderung mit seinem Gespann bei unserer Aussiedelung bis nach Görlitz in das Sammellager.
Nach mehrmaligen Kontrollbesuchen des Bürgermeisters während mei­ner Aufsichtsarbeit hatte ich eine gewisse Vertrautheit zu ihm gefunden, dass ich den Mut hatte, ihn um eine etwas bessere Wohnung für uns zu bitten. Ganz überrascht war ich, dass er ohne zu zögern meinem Wunsch nachkam und auch die von mir gewünschte und vorgeschlagene Wohnung akzep­tierte. Wir sind dann schnell in das andere Haus eingezogen. Viel zu räumen gab es ja nicht. Außer dem Bettgestell und einem Tisch mit ein paar Stühlen gab es keine Möbel. Jetzt hatten wir wenigs­tens zwei Zimmer und konnten die, den Winter über äußerst kalte Dachkammer vergessen.
Heizungsmaterial wurde auch in dieser Wohnung reichlich gebraucht. Es waren nur einfach verglas­te Fenster vorhanden. Zuhause hätten wir reichlich Feuerung für die Wintermonate gehabt, mussten das alles ja zurücklassen und andere wärmten sich daran. Kohle gab es auch nicht zu kaufen. Wir hätten auch das Geld dafür nicht gehabt. Die Währung war inzwischen auf polnische Sloty umge­stellt. Holz oder Holzabfälle musste man sich „besorgen“ ( stehlen ). Wir haben im Winter mit zer­stückelten Autoreifen geheizt. Diese mussten ebenfalls „besorgt“ werden.
Ein großer eingezäunter Lagerplatz mit riesigen Stapeln alter Reifen war in der Nähe. Eine Fabrik in Seidenberg verarbeitete diese Gummireifen zu anderen Produkten. Ein in die Umzäunung geschnit­tenes Loch ermöglichte nachts und möglichst bei Nebel den Zugriff.

Arbeit als Bäckereigehilfe

Ende Oktober endete die mir übertragene Aufsicht für das kleine Anwesen und ich kam als Hilfs­kraft zu dem Bäcker in unserem Dorf, einem polnischen Bäckermeister, der gleichzeitig Stadtver­ordneter im nahen Seidenberg, direkt an unser Dorf angrenzend, war. Schon nach wenigen Tagen meiner Tätigkeit, die in erster Linie sich um Dinge der Bevorratung von Heizmaterial für den Back­ofen und die Versorgung der Tiere drehte ( es wurden Schweine und Hühner gehalten ) musste ich in der Backstube mitarbeiten. Die Arbeit begann damit für mich um zwei Uhr nachts und kam einer Lehre im Bäckerhandwerk gleich. Alle damit verbundenen Arbeiten wurden mir gezeigt und muss­ten erlernt werden. Anschließend war in der Backstube aufzuräumen, zu säubern, Backbleche put­zen und so weiter. Dazu kam, täglich Backwaren in den zweiten Verkaufsraum in die Stadt zu brin­gen. Das wurde mit einem einfachen Handwagen bewerkstelligt. Am Jahresende kam es zum Um­zug der Bäckerei in eine leerstehende, aber völlig ausgeräumte Bäckerei in der Stadt Seidenberg. Außer den vier Wänden des Gebäudes und dem Backofen gab es keinerlei nutzbare Gegenstände. Die gesamten in der Bäckerei gebrauchten Sachen mussten von der Alt-Seidenberger in die Stadtbäckerei gebracht werden. Es lag Schnee und der Transport erfolgte mit einem handgezogenen großen Schlitten. Da es zur Stadt hin bergab ging, war das gut zu bewerkstelligen.
Der Umzug dauerte einige Tage, weil ja immer nur nach der Backtätigkeit Zeit zur Verfügung stand. Der Backbetrieb wurde nicht unterbrochen. Mein Weg bis dahin war aber nun ca. zwei Kilometer weit. Arbeitsbeginn war weiterhin ein Uhr nachts. Das Ausgangsverbot für Deutsche galt jedoch noch immer während der Nacht. Vom Magistrat bekam ich zwar eine schriftliche Ausnahmegeneh­migung. Wie viel Wert sie in der Praxis hätte, war jedoch nicht abzuschätzen. Ich habe es nicht dar­auf ankommen lassen und bin bei mir entgegenkommenden Geräuschen ausgewichen, zum Teil einen Umweg gegangen.
Diese Bäckerei gehörte vormals einer Familie Wittig, sehr gute Bekannte meiner Großeltern Die Entfernung, vom Hinterausgang gerechnet, betrug nur ca. 200 Meter bis zur tschechischen Grenze. In den kalten Nächten kamen die patrouillierenden Grenzpolizisten oft, m sich am warmen Backofen aufzuwärmen. Leider half mir die Bekanntschaft mit diesen Leuten wenig, weil sie nur im Grenz­dienst eingesetzt waren.
Der Backofen war ein moderner Dampfbackofen mit zwei Etagen. Wesentlich einfacher in der Handhabung bei geringerem Aufwand als bei dem Alt-Seidenberger. Das Überwechseln in die Bä­ckerei, wenn von der Nachtarbeit abgesehen wird, war für mich ein großer Vorteil. Ich musste zwar genau wie vorher 12 Stunden tätig sein, war aber in der kalten Jahreszeit immer im Warmen und be­kam täglich ein Brot mit nach Hause – in der Zeit eine sehr hoch einzuschätzende Sache.
Und mit dem polnischen Meister, einem sehr korrekten, gerechten, aber auch strengen Mann, war gut auszukommen.
Im Frühjahr 1947 wechselte der mit in der Bachstube arbeitende polnische Geselle in einen anderen Betrieb. Dafür wurde ein polnischer Lehrling eingestellt. Ohne Aufsehen wurde ich in den frei ge­wordenen Tätigkeitsbereich geschoben. Der junge Pole, nicht wesentlich jünger als ich, stand nun genau genommen unter einem Deutschen. Denn er hatte jetzt die Arbeiten zu erledigen, für die ich bisher zuständig war. Eine für mich nicht besonders beruhigend wirkende Sache.
Der Meister hatte mir vorgeschlagen, dass ich die polnische Staatsangehörigkeit annehmen sollte. Er würde sich dafür einsetzen, dass wir unseren Besitz wieder bekämen. Daran konnte ich nur zwei­feln. Auch mit polnischer Staatsangehörigkeit blieb ich landläufig Deutscher und damit Außenseiter. Auch hätte ich bei meinem Großvater dafür kein Verständnis gefunden.
Wenig später, im Mai, bekamen wir Order für die Ausweisung. Ich denke, dass in polnischen Krei­sen dieser Termin schon länger feststand und darauf hin mir das Angebot gemacht wurde.
Über den Abtransport nach Westen waren wir in gewisser Weise froh. Denn nur ganz wenige deut­sche Familien verblieben noch in der alten Umgebung zurück.

Die Umsiedlung des Willi Zöllner

Meine Umsiedlung vollzog sich folgendermaßen:

Die Zwangsausweisung aus Alt-Seidenberg Kr. Lauban (südöstlich Görlitz an der Tschechi­schen Grenze gelegen) erfolgte Mitte Mai 1947.
Der Abtransport vollzog sich ab Görtliz in mit 30 Personen beladenen Reichsbahn-Waggons. Die Strecke bis Görlitz musste zu Fuß bewältigt werden. Wir hatten Glück. Ein zwischenzeit­lich in unserem Ort angesiedelter polnischer Landwirt erbot sich bereit, uns mit seinem Ge­spann zu dem ca. 17 km entfernten Sammelplatz zu bringen. Dadurch entgingen wir von herum stromernden, räuberischen Banden belästigt und den ohnehin wenigen erlaubten mitnehmbaren Dingen entledigt zu werden. Über gelegentliche Hilfsleistungen waren wir mit dem Po­len bekannt und vertrauenswürdig geworden. Der Kontakt zu der polnischen Familie besteht bis heute.

Die Fahrt ab Görlitz dauerte drei Tage, weil der Zug zwischendurch öfter für längere Zeit auf Abstellgleisen warten musste und endete in Wolfen bei Bitterfeld. Da kamen wir in ein Bara­ckenlager. Mehrere Familien belegten einen Raum. Unserer Familie bestand aus drei Perso­nen (meine Mutter und wir zwei Söhne, 15 und 16 Jahre alt). Hier war eine vierwöchige Quaran­täne angeordnet.
Die Verpflegung war nicht üppig, aber geordnet. Es gab morgens eine Kelle Suppe und jeden zweiten Tag eine Brotration.
Nach Ablauf dieser Zeit wurden wir in Privathäuser zwangseingewiesen. Wir bekamen einen Raum in einer ehemaligen Jagdhütte, die von einer älteren Dame bewohnt wurde und am Ortsrand von Hohenlübast (bei Gräfenheinichen) lag.
Die Arbeit: Grubenholz schlagen in dem Forstgebiet Dübener Heide. Die zu fällenden Kiefernbäume standen zu der Zeit im vollen Saft und hatten, auf ca. 2 m abgelängt, ein enormes Gewicht.
Wir waren jetzt auf uns selbst gestellt. Auf die Lebensmittelmarken konnten wir außer Brot (zugeteilt) nichts bekom­men. Auch an Kartoffeln war jetzt im Juni – Juli nicht zu kommen (ebenfalls auf Marken, aber ausverkauft. Vorausschauend hatte meine Mutter schon Wochen vor unserer Ausweisung Brotscheiben und geschnittene Möhren getrocknet. Damit konnten wir eine kurze Zeit über­brücken ohne wirklich hungern zu müssen. Eine geeignete Kost für die harte Arbeit jedoch war es nicht.

Wunstorfer Str. 4, Aufnahme aus den 1950er Jahren

Von einem Arbeitskollegen erfuhr ich über den Besuch seines Schwiegersohns aus Helms­tedt ( britisch besetze Zone ), der am Wochenende wieder zurück wollte. Nach einem Ge­spräch mit ihm konnte ich mich bei seiner Rückreise anhängen, um den Aufenthaltsort meiner Großeltern in Neustadt bei Hannover in der britisch besetzten Zone anzusteuern. Ein Weggehen der gesamten Familie wäre nicht unauffällig gewesen und hätte den Verzicht auf die restliche noch verbliebene Habe bedeutet. Auch wäre das der sich freundlicherweise zum Mitgehen erbietenden Person nicht zuzumuten gewesen.
Die Großeltern wurden ein Jahr zuvor, 1946, zwangsausgewiesen und landeten in Neustadt a. Rbge..
Die Fahrt ging über Halle, Magdeburg, Richtung Helmstedt, Braunschweig, Hannover.
In Marienborn, vor der Zonengrenze (russisch und britisch besetzte Zone), war die Bahnstre­cke unterbrochen und Endstation. An der Grenze entlang patrouillierte russisches Militär. Dank bester Orts- und Geländekenntnis des Reisegefährten kamen wir problemlos über die Grenze nach Helmstedt.
In Hannover spät abends angekommen, musste ich bis zum nächsten Tag auf die Abfahrt des ersten Zuges Richtung Neustadt warten. Die Nacht verbrachte ich auf einem Gang zu den Ka­takomben unter dem hannoverschen Hauptbahnhof (vermittelt durch die Bahnhofmission). Um Schwarzhändler aufzuspüren, gab es in dieser Nacht mehrere Polizeikontrollen.
Am 12. Juli 1947 Ankunft in Neustadt. Die Großeltern bewohnten einen Raum auf dem Dach­boden eines mit vier Familien bewohnten Hauses. Es gab weder Wasserleitung noch Abwasserabfluss. Das musste über eine im unteren Geschoss wohnende Familie abgewickelt werden. Auch das Aufsuchen der Toilette konnte nur bei einer der Familien erbeten werden. Es sei denn, man benutzte die ca. 4 Min. entfernt liegende öffentliche Bahnhofseinrichtung.

Mein Großvater war damals 73 Jahre alte, meine Großmutter 65. Sie erhielten Unterhaltshilfe, die später bei der Hauptentschädigung ( Lastenausgleich ) verrechnet wurde. Außerdem machte Großvater Botengänge für eine Wäscherei. Großmutter arbeitete stundenweise in der Landwirtschaft und in einer Gaststätte.

Am folgenden Tag stellte mich meine Oma der Neustädter Familie Nülle vor, die sie durch ihre Arbeiten in der Landwirtschaft kannte und bei der ich Unterkunft bekommen sollte. Ich wurde aufgenommen, bekam ein kleines Zimmer und lebte mit in der Familie. Zu allen, in dem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb anfallenden Arbeiten, wurde ich mit eingeteilt. Da ich in der Landwirtschaft aufgewachsen bin und nach dem Schulende 1945 eine landwirtschaftliche Lehre begonnen hatte, kam mir das ganz entgegen.
Die geringe Größe und die eingeengte Lage der Landwirtschaft im Ortszentrum machte einen hohen Aufwand an Handarbeit erforderlich. Die zu der Zeit einsetzende Mechanisierung war bei der Betriebsgröße ( 6 Kühe, 12 – 20 Schweine ) nicht tragbar. Außer der familiären Arbeitskraft mussten daher alle anderen Kosten klein gehalten werden.
Den täglichen Arbeitsablauf bestimmte in erster Linie die Tierhaltung. Wenn die Milch um 7:00 Uhr zur Abholung bereit stehen musste und das Pferdegespann ebenfalls zu der Zeit einsatzfähig sein sollte, war ein Arbeitsbeginn um spätestens 5:30 Uhr erforderlich. In der Zwischenzeit wurde das morgendliche Frühstück eingenommen.
Danach erfolgten die erforderlichen Arbeiten, jahreszeitlich bedingt unterschiedlicher Art, auf den Feldern. Während dieser Arbeit bis zur Mittagszeit wurde ein mitgenommenes Vepserbrot zur Stärkung verzehrt. Das von der Hausfrau zubereitete Mittagessen wurde gemeinsam und gleichzeitig um 12:00 Uhr eingenommen. Des Nachmittags wurden die Feldarbeiten bis ca. 18:00 Uhr fortgesetzt, danach das Vieh versorgt und gegen 19:00 Uhr Abendbrot gegessen.
Die Verpflegung wurde ausschließlich mit im Betrieb erzeugten Lebensmitteln bestritten. Landwirte galten als Selbstversorger. Sie bekamen keine Bezugskarten für Lebensmittel – Ausnahme war Zucker oder ähnliches.
Selbst bei Feierlichkeiten in der Familie wurde ich nicht ausgegrenzt und kam mit der Ver­wandtschaft in engen Kontakt. Das brachte mir unter anderem ein aus unterschiedlichen Tei­len zusammen gebasteltes Fahrrad ein. Zu der Zeit und für mich ein riesiges Geschenk.

Unser Familienoberhaupt eröffnete mir, dass ich nicht nur Hilfsarbeiter sein könnte, sondern etwas zu lernen hätte. Das Ergebnis: mit Fürsprache konnte ich 1948-1949 das Wintersemes­ter in der Landwirtschaftsschule Neustadt besuchen. Da ich zur Anmeldung weder Zeugnisse noch sonstige Befähigungen nachweisen konnte, war sicherlich das Gespräch der Familie Nülle mit der Schulleitung ausschlaggebend für meine Aufnahme.
Auch im Folgejahr konnte ich, neben ein paar Stunden Mithilfe im landwirtschaftlichen Betrieb die Oberstufe mit einem Abschluss durchlaufen. Das Zusammentreffen mit gleichaltrigen jungen Leuten aus dem gesamten Kreis Neustadt während der Schulzeit galt als positiv.
Auch zu der Vorbereitungsversammlung für die Wiederbelebung des traditionellen Schüt­zenfestes nach dem Kriege wurde ich mitgenommen. Der Betrag von einer Reichsmark Ge­bühr bei der Eintragung in das Schützenreglementsbuch wurde für mich übernommen. Ich galt also als voll akzeptierter Einwohner.
Alles in Allem kann ich feststellen, dass es keinerlei Probleme bei der Eingewöhnung in das neue Umfeld gegeben hat.