Wohnungssituation

Fremde Heimat – Vertriebene in einer ländlich strukturierten Region. Erinnerungen von Ursula Ramm und Magdalena Staab. Moderation: Ingeborg Koslowski
Neustadt 11. Juni 2015 (von links: Ursula Ramm. Ingeborg Koslowski, Magdalena Staab)

Ingeborg Koslowski:
Deutschland lag nach dem 2.Weltkrieg in Trümmern. Wenzel schreibt dazu, dass sich etwa 310 Mio. Kubikmeter Trümmer auftürmten,womit man eine Mauer von 80 cm Höhe und einem Meter Dicke zum Mond hätte aufschichten können (damit man eine ungefähre Vorstellung hat).13)
Die Wohnungsnot in Neustadt war wegen Unterbringung der Vertriebenen, Flüchtlinge aber auch wegen der Evakuierten aus Hannover, deren Wohnungen ausgebombt waren, wie überall in dieser Zeit äußerst problematisch.
Im Wohnungsgesetz vom März 1946 (Kontrollratsgesetz Nr. 18) wurde die Requirierung von Wohnraum für die Neuankömmlinge festgeschrieben. Eine Wohnungsdirektive im Kreis Hannover, Amtsblatt für Neustadt, sieht eine strenge Durchführung der Maßnahmen vor.
In einer Beschlagnahmeverfügung wird eine Geldstrafe bis zu 10.000 RM oder Gefängnis bis zu einem Jahr angedroht.14)
Nach den bestehenden Richtlinien stand jeder Person in Neustadt damals nur ein Wohnraum von 5 qm zur Verfügung.15)
Vertriebene und Flüchtlinge, die nicht selten in ihrer Heimat über eine sehr gute Wohnmöglichkeit verfügt hatten, mussten nun mit den Einheimischen auf engstem Raum zusammenleben. Meist unter katastrophalen Bedingungen, denn eine Intimsphäre war oft genug nicht gewährleistet.
Streitigkeiten, die nicht selten auch vor Gericht endeten, waren an der Tagesordnung.
So finden wir im Dezember 1949 in der Leinezeitung den Artikel mit der Ãœberschrift: „Frauengesicht ist keine Boxbirne“ den Fall eines fast 70jährigen ehemaligen Polizeibeamten. Ich zitiere „sonst ein Musterexemplar eines ordentlichen und friedfertigen Staatsbürgers“ , der mit seinen Mietern nicht das beste Einvernehmen hatte. Ein Streit endete damit, dass er der Frau mit seiner Faust ins Gesicht schlug und ihr das Nasenbein damit zertrümmerte.
Fast hätte ihn dieser Tatbestand ins Gefängnis gebracht – es kam allerdings zu einer empfindlichen Geldstrafe. 16)
Während eines Richtfestes des städtischen Wohnblocks auf den Klagesäckern forderte der damalige Bürgermeister Gubba weitere öffentliche Mittel für den Wohnungsbau ein. Zwar gäbe es genügend Arbeitskräfte, jedoch sei zu wenig Baukapital vorhanden. Der anwesende Wiederaufbauminister Alfred Kubel mahnte mit den Worten, dass die Wohnungsbaufrage nicht allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten sei. „Denn es gebe kein Gesundheitswesen, kein Familienleben, ja keine Erziehung der Kinder ohne Wohnungsbau.“17)
Wie groß das Problem der Wohnraumbeschaffung hier war, das zeigt die Dringlichkeitsliste für Wohnungssuchende des Wohnungsausschusses vom Juli 1950: es fehlten zu diesem Zeitpunkt immer noch 1100 Wohnungen, teilweise von Suchenden aus dem Jahr 1947.
Und es gab noch 10 Notunterkünfte mit ca. 400 Bewohnern.18)

Es änderte sich bis weit in den 60-er Jahre nichts an der Wohnungsnot. Die Hannoversche Presse vom 6.1.1961 berichtet von 380 Neustädter Wohnungssuchenden, und es stehen immer noch Baracken in der Feldstraße, im Ahnsförth, im Kühlen Grunde und in der Moorstraße. Die Wohnungsnot war noch lange nicht beseitigt, und Neustadt zählt zu dieser Zeit zu den Städten mit den meisten Baracken in Niedersachsen.19)

Magdalena, was habt ihr auf der Wohnungssuche erlebt, was weißt du von deinen Eltern? Kannst du uns etwas über die Schwierigkeiten der Wohnraumbeschaffung erzählen? Wie ich von dir weiß, musstet ihr einen häufigen Wohnungswechsel vornehmen.

Magdalena Staab:
Nach der Massenunterkunft in der Stockhausen-Schule wurden meine Eltern mit mir in das Ackerbürgerhaus Windmühlenstrasse 20 (heute Zahnarztpraxis), eingewiesen. Dort lebten wir in einem Zimmer, das gleichzeitig den Durchgang zum Schlafzimmer der Eigentümer bildete.
Nach einem halben Jahr zogen wir – wieder eine Zwangseinweisung – in die Wallstrasse 1. Eine deutliche Verbesserung: ein Zimmer im 1. Stock mit separatem Eingang vom Treppenflur aus und Plumpsklo auf halber Treppe. Das bedeutete, nachts nicht über den Hof auf das Plumpsklo zu müssen. Eine Liege, auf der Nachts geschlafen und die tags mit dem aufgerollten Bettzeug als Sitzgelegenheit diente, ein Tisch, ein Stuhl.
Die Gänge zu den Ämtern (Gesundheits- und Wohnungsamt) waren bedrückend. Als kleines Kind an der Hand meiner Mutter merkte ich, dass mit meiner Mutter anders umgegangen wurde als mit den anderen Leuten, die vor uns dran waren?
Sie stammte aus dem polnischsprachigen Oberschlesien und der polnische Akzent schien zu genügen, um uns vor aller Augen herabsetzend zu behandeln.
Die NS-Ideologie von den „polnischen Untermenschen“ lebte fort, aber damals wusste ich darüber noch nichts. Ich schämte mich und wusste nicht, warum.

Die dritte Zwangseinweisung führte uns 1949 in die Mecklenhorster Strasse 12 (heute Nr. 48), zu Rabes, einem Bauernhof. Hier hatten wir schon zwei Zimmer. 1950 wurde mein Bruder geboren. Das Spielen in der Feldmark mit anderen Kindern war abenteuerlich schön.
1951 wurde ich eingeschult, in die Stockhausenschule. Die Mecklenhorsterstrasse war wenig befahren und obstbaumbestanden. Einen separaten Fußweg gab es aber nicht.
Den bedrohlichen Panzerkolonnen der Briten musste ich ausweichen, in dem ich den Straßengraben benutzte. Wenn die Leine Hochwasser führte, sah ich mit großen Ängsten das Wasser unter mir zwischen den Ritzen des hölzernen Brücken-Fußweges hindurch strudeln und träumte nachts von den Fluten.

1953 dann der Umzug in die Lindenstr. 1, bei Frau Plinke, diesmal selbst gesucht, nicht zwangseingewiesen. Dort hatten wir es gut: 3 Zimmer, eine Waschküche für Alle und ein Garten am Haus zum Anbau für Kartoffeln und Gemüse und so nah zur Schule und Kirche. 1956 kam hier meine Schwester zur Welt.

Ingeborg Koslowski:
Ursula,ihr habt ja mit eurer Großfamilie sogar im Schloss gewohnt. Was ist dir aus dieser Zeit in der Erinnerung geblieben ?
Wie sah die Wohnungssuche in der Praxis damals aus ? Wie ich weiß, hast du deine Eltern selbst aktiv bei den Ämtern unterstützt. Die Wohnraumbeschaffung musste sich für eine Großfamilie von 7 Personen besonders schwierig gestalten.

Ursula Ramm:
Es dauerte noch Wochen, Monate manchmal auch Jahre bis die Vertriebenen eine menschenwürdige Unterkunft besaßen.
Das Leben in den Massenquartieren verlangte von den Bewohnern viel gegenseitige Rücksichtnahme. Alt und Jung lebte in einem Raum, sie hatten nur das Notwendigste zum Weiterleben in den Koffern und Rucksäcken neben ihrer Schlafstätte. Es gab lange Gespräche mit dem Thema: wie wird es weitergehen, werde ich wieder in meinem Beruf arbeiten können und wie wird die schulische Weiterbildung der Kinder fortgesetzt?
(Bild : Aufruf des Oberkreisdirektors)
Im Amtsblatt der Stadt Neustadt erfolgte ein Aufruf des Oberkreisdirektors Raake mit der Ãœberschrift: „Wer den Flüchtlingen hilft, hilft sich selbst und seinem Volk.“ Dort hieß es:
„Die Not der Flüchtlinge und besonders derjenigen, die zuletzt in unseren Kreis eingewiesen wurden, ist riesengroß. (…) Tausende sind heute noch in Massenquartieren untergebracht, liegen auf Stroh, haben keine Kochmöglichkeit und nicht einmal einen Tisch oder Stuhl (…) Sie haben ihre liebgewonnene Heimat im Osten, ihr Elternhaus und liebgewonnene Freunde, Bekannte und Verwandte verlassen müssen, um nun in ihrer neuen Heimat sehr oft festzustellen, dass sie als Eindringlinge, als lästige Ausländer empfunden werden. (…) Die Flüchtlinge haben den Krieg nicht allein verloren, sondern das deutsche Volk in seiner Gesamtheit. (…) Die Flüchtlinge brauchen nicht zu betteln, sondern sie haben ein Recht zu fordern. Sie haben Anspruch auf menschliche Unterbringung und können verlangen, dass ihnen Kochgelegenheit und Töpfe, entbehrlicher Hausrat und Betten zur Verfügung gestellt werden. Es darf nicht vorkommen, dass Eingesessene ein ganzes Haus oder eine geräumige Wohnung für sich allein beanspruchen und sich weigern, ein überflüssiges Zimmer abzugeben, während man hartherzig zusieht, dass Flüchtlinge mit vier oder noch mehr Personen ein kleines Zimmer, sehr oft ohne Hausrat, mit Steinfußboden und ohne Heizmöglichkeit bewohnen müssen. (…) Wir müssen und werden ausgleichend wirken. (…) Einwohner des Kreises Neustadt a. Rbge.! Seht Eure Keller und Böden nach und stellt uns den überflüssigen Hausrat zur Verfügung. Räumt Eure Christbaumkammern und führt sie ihrem ursprünglichen Zweck wieder zu, indem Ihr Flüchtlinge darin unterbringt. Zwingt uns nicht, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Jeder gehe dem Nachbarn mit gutem Beispiel voran. Der Oberkreisdirektor: Raake“

Das Lagerleben gestaltete sich an manchen Tagen auch vergnüglich, beispielsweise dann, wenn ein Geburtstagskind unter den Stubengenossen war. Es wurde gesungen, selbstverfasste Gedichte wurden vorgetragen und wunderschöne Feldblumensträuße überreicht.
Das Tagebuch berichtet:
„26. Juli 1946. Heute zu Ullas Geburtstag wird ihr frühzeitig ein Lied von unsern Stubenstrohgenossen gesungen und anschließend ein selbstverfasstes Gedicht und Glückwünsche von Elli Adam vorgetragen, dann Ãœberreichung von Blumen. – Nachmittags gehen wir in ein Lokal und lassen uns Kaffee kochen und nehmen uns den selbstgebackenen Zuckerkuchen mit. Der abendliche Budenzauber ist an der Tagesordnung.“

Am 1. August bekamen wir ein Zimmer im Schloss Landestrost zugewiesen. Hier begann jetzt das weitere Leben einer großen Familie: einer Großmutter, ihrer Tochter mit einer 17-jährigen Tochter und einem 14-jährigen Sohn, sowie mit zwei weiteren Töchtern der Großmutter, die 47 und 36 Jahre alt waren in einem großen Raum.

Beheizt wurde das Zimmer von der Zentralheizung des Schlosses, in dem jetzt auch die Kreisverwaltung arbeitete und noch weitere Familien, die in Hannover und Hamburg ausgebombt waren, die Familie des Oberkreisdirektors, seines Chauffeurs und des Hausmeisters. In den ersten Wochen stand in dem Zimmer der großen Familie ein großer grüner Kachelofen. Erst nach einigen Wochen wurde davor ein Küchenherd angeschlossen und so brauchte das Mittagessen nicht mehr aus dem Hotel Nülle geholt zu werden.
Der Alltag gestaltete sich in dem großen Raum sehr abwechslungsreich: Zwei Kinder brauchten Platz für ihre Schularbeiten. Bald wirkte hier auch der Vater der Kinder, der aus der sowjetisch besetzten Zone kam und Bauzeichnungen und statische Berechnungen für ein hiesiges Baugeschäft anfertigte. Er hatte die Zuzugsgenehmigung erhalten, nachdem die Familie einen Wohnraum nachweisen konnte.
Im April 1948 wurde der Familie im Schloss Landestrost der Wohnraum gekündigt. Die Räumlichkeiten benötigte die Kreisverwaltung und es begann eine wochenlange Suche nach einer geeigneten Wohnung für die siebenköpfige Familie. Hierbei war der Arbeitsausschuss für Wohnfragen mit dem Flüchtlingsbetreuer erfolgreich und die Familie bekam im August 1948 eine 2-Zimmerwohnung mit Wohnküche in der Scharnhorststraße (jetzt Theodor-Heuss-Straße).

Das Tagebuch berichtet:
„23. August 1948. Unser Umzug ist nun doch mit dem heutigen Tage vom Stapel gelaufen; der Kreis übernimmt die Unkosten. Wir bekommen in der Scharnhorst-Straße 30 zwei Zimmer mit einer ganz kleinen Kochnische. Ein Küchenherd wird uns ebenfalls gestellt, den wir in monatlichen Raten von 5 DM abzuzahlen haben; der Preis hierfür ist 173,50 DM.“

13) Quelle: Wenzel, R.: Die große Verschiebung:Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland. Stuttgart 2008

14) Quelle: Wohnungsdirektive 11 vom 28.9.1946 in: Kreisarchiv Hannover, Amtsblatt für den Kreis Neustadt a.Rbg. Nr.38/8.11.1946

15) Quelle: (Protokoll des Wohnungsausschusses Neustadt am Rübenberge Nr. 29 vom 1.3.49

16) Quelle: Leine Anzeiger vom 16.12.1949

17) Quelle: Leine-Anzeiger vom 29.11.1949

18) Quelle: Protokoll des Wohnungsauschusses Neustadt am Rübenberge vom 6.7.1950

19) Quelle: Dyck, H., Baracken und Notunterkünfte. In Geschichte, Mythen, Fakten. Historisches über Neustadt auf ruebenberge.de