Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt Neustadt durch den Zuzug von Vertriebenen und Flüchtlingen den größten Wandel seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Er war die Folge des von Nazi-Deutschland begonnenen Eroberungskrieges und insbesondere auch der brutalen Unterdrückungs- und Vernichtungsmethoden in den besetzten Gebieten. Zu den schon bis 1944 in Niedersachsen evakuierten 602000 Menschen kamen zwischen 1945 und 1949 noch einmal 650 000 bis 700 000 hinzu.1) Unmittelbar nach Kriegsende musste auch eine hohe Zahl von „Displaced Persons“, meist ehemalige Zwangsarbeiter, vorübergehend untergebracht werden und gleichzeitig Lager für deutsche Kriegsgefangene, von denen es allein in der Provinz Hannover 136.637 gab, eingerichtet werden.
Die britische Besatzungsmacht verschärfte die Wohnraumsituation zusätzlich, indem sie 1945 die Landwehr und die Villen an der Wunstorfer Straße evakuieren ließ und die Stockhausenschule belegte. Mit Eintreffen der nach dem Potsdamer Abkommen 1946 überwiegend aus Polen Vertriebenen ließ sich dieses nicht mehr aufrecht erhalten. Der vorhandene Wohnraum reichte nicht aus.
Nach der Freigabe der Stockhausenschule durch die britische Besatzungsmacht im Jahr 1946, wies die Verwaltung viele Vertriebene zunächst in die Alte Schule in der Schulstraße ( heute An der Liebfrauenkirche ) ein, bevor sie in Privatwohnungen eingewiesen wurden. Durch das Amtsblatt ließ Oberkreisdirektor Raake am 07. Juni 1946 verkünden, dass die Verteilung der Vertriebenen auf alle Häuser gleichmäßig durchzuführen sei. Den Einheimischen stehe, je nach Alter, nur eine gewisse, vorgeschriebene Anzahl von Quadratmetern zur Verfügung: Erwachsene konnten vier, Kinder von eins bis vierzehn Jahren zwei Quadratmeter beanspruchen. Bei den folgenden Zwangseinweisungen kam es häufig zu Auseinandersetzungen mit den Flüchtlings- und Wohnungsämtern, die zum Teil dokumentiert, aber noch nicht ausgewertet sind. Die Lebensumstände dieser „Zwangswohngemeinschaften“ sind erst recht noch weitgehend im Dunkeln.
„In Neustadt wurde im Juni 1945 ein Bevölkerungszuwachs von 41% der Zahl von 1939 gemessen, die Bevölkerung bestand zu 47% aus Flüchtlingen, Vertriebenen, Evakuierten. Im Juli 1946 war die Bevölkerung des Kreises Neustadt von 37.873 ( 1939 ) auf gut 70.000 angewachsen. Und die Zahl stieg weiter.“2)Dies veranlasste den Kreistag am 12.Juli zu der folgenden Resolution an die britische Militärregierung:
„Die Zahl und damit die Not der Flüchtlinge hat sich gewaltig vergrößert. Veranlaßt durch die Räumung der den Polen zugesprochenen Gebiete östlich der Neisse und Oder und die Evakuierung aller Deutscher aus der Tschechei ergoß sich ein nach Millionen zählender Flüchtlingsstrom in die westlichen Besatzungszonen. Dadurch haben sich wohnungs- und versorgungsmäßig unhaltbare Zustände herausgebildet, die für die Zukunft zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß geben.
Die Flüchtlinge und besonders diejenigen, aus dem polnisch besetzten Gebiet haben alles zurücklassen müssen und kommen vollständig mittellos und zum Teil unterernährt und krank hier an. In den zum Teil überfüllten Auffanggebieten westlich der Elbe fehlt es am Notwendigsten, um die Flüchtlinge auch nur annähernd menschenwürdig unterzubringen. Es fehlt an Wohnraum, Mobiliar und Bekleidung, jurz gesagt alles, was diesen Ärmsten eigentlich gewährleistet werden müßte. Die Unzufriedenheit ist deshalb unter ihnen sehr groß, besonders aus dem Grunde, weil die eingesessene Bevölkerung sehr oft sich sehr herzlos beträgt und auch nicht die geringste Unbequemlichkeit in Kauf nehmen will. Einweisungen von Flüchtlingen kann nur in den seltensten Fällen ohne Hilfe der Gendarmerie erfolgen und die auf diese Weise eingewiesenen Flüchtlinge sind den größten Schikanen seitens der Gastgeber ausgesetzt.
Der Kreis Neustadt a/Rbge. Hatte am 1.9.1939 eine Einwohnerzahl von 37 873. Diese Zahl hat sich bis heute ( Stichtag 3.7.1946 ) auf 70 747 erhöht. Das entspricht einer Zunahme von 86,8%. Zu dieser Zahl ist der letzte Transport vom 10.7.1946 nicht einbegriffen.
Die Zahlen beweisen, dass der Kreis überfüllt ist und es beim besten Willen nicht möglich ist, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Von den letzten Transporten liegt heute noch ein großer Prozentsatz in Schulen, bzw. Sälen, weil Privatquartiere nicht zur Verfügung stehen.
In der heute stattgefundenen Sitzung des Kreistages des Kreises Neustadt a/Rbge. Wurden alle angeschnittenen Fragen ausgiebig besprochen und einstimmig beschlossen, die Militärregierung zu bitten, vorläufig von einer weiteren Einweisung von Flüchtlingen Abstand zu nehmen, wenigstens solange, bis auch die übrigen Kreise bzw. Regierungsbezirke der Provinz und der übrigen Teile der englisch besetzten Zone denselben Prozentsatz aufweisen.“3)
Am gleichen Tag veröffentlichte das „Neustädter Amtsblatt“ eine Anweisung des Oberkreisdirektors an die Gemeindedirektoren 4):
Wenige Monate später musste das „Amtsblatt“ von einer Zusammenkunft der Flüchtlingsbetreuer differenzierter über die Probleme der Wohnraumbeschaffung berichten:
Abschrift
„Besitzen die Einheimischen mehr Rechte als die Vertriebenen? Wohnungsausschuß des Kreises besteht zu Unrecht
Bei einer Zusammenkunft der Flüchtlingsbetreuer des Kreises Neustadt gab Kreisflüchtlingsbetreuer Freyer Auskunft über die Zusammenhänge der sich in letzter Zeit besonders stark bemerkbar machenden Mißstände auf dem Gebiet der Wohnraumbeschaffung.
Im Verlauf seiner Ausführungen stellte er fest,daß es im Kreis Neustadt nicht möglich wäre, die Differenzen ( gelinde gesagt ) zwischen einheimischen und Vertriebenen zu beseitigen. Es sei dem Kreisflüchtlingsamt völlig unmöglich, mit seiner Besetzung von zwei Kräften die Hälfte der Einwohnerzahl des Kreises ( ca. 36 000 ) zu betreuen. Dagegen weisen Dienststellen, die ein kleineres Arbeitsgebiet besitzen, oft mehr als das 6fache an Personal auf. Die Tatsache, dass es nicht durchzuführen wäre, wichtige Fragen im Interesse der Vertriebenen 2de Jure“ zu klären, mache von vorneherein alle Bemühungen in dieser Richtung illusorisch. – Bezüglich der Beschlagnahme von Wohnräumen würde oft von“diktatorischen Maßnahmen“ gesprochen – allerdings könnte nur von einer „Diktatur der Einheimischen“ die Rede sein.
Mit großer Genugtuung nahmen die Flüchtlingsbetreuer ein Schreiben der Regierung zur Kenntnis, in dem der vor einigen Monaten vom Kreistag gewählte 3köpfige Wohnungsausschuß als ungesetzlich bezeichnet wurde. Laut Wohnungsgesetz Nr. 18 liegt die Entscheidung in Wohnraumfragen einzig und allein beim Kreiswohnungsamt. Ein Wohnungsausschuß – der aber 7 Mitglieder umfassen muss – habe lediglich nur beratende Stimme.
Die Ausführungen des Flüchtlingsbetreuers Hain, Neustadt, der die Gründung eines Arbeitsausschusses zur Wahrung der Interessen der Vertriebenen – angesichts der unhaltbaren Zustände – für unbedingt notwendig erachtete, wurden mit großem Beifall aufgenommen. Dieser Ausschuß soll sich in der Hauptsache mit der Wohnraumfrage, der Abstellung von Mißständen ( in Flüchtlingsfragen ), Zusammenführung der Familien und Beteiligung an sämtlichen Ausschüssen des Kreistages befassen. Folgende Flüchtlingsbetreuer wurden gewählt: Much ( Schneeren ), Metschies ( Blumenau ), Schwandt ( Helstorf ), Hain ( Neustadt ), Skoda ( Lichtenhorst ), Dr. Hollmann ( Dedensen ) und Grund ( Wunstorf ).
Bei den kommenden Gemeinderats- und Kreistagswahlen wollen die Vertriebenen – so lautete die Forderung der gesamten Versammlung – gemäß ihrem Stärkeverhältnis in den Gemeindeparlamenten und im Kreistag vertreten sein.“5)
Während des strengen Winters 1946 wurde im „Amtsblatt“ die Bereitstellung von Bettgestellen angekündigt.6)
Gleichzeitig wurden die Einheimischen dringend um Solidarität und Mithilfe gebeten.
Schon im Januar 1947 wiederholte Stadtdirektor Fritsche im „Amtsblatt“ für die Stadt Neustadt den dringenden Appell. Ein Anzeichen dafür, dass der vorweihnachtliche Aufruf für die Linderung der Not keineswegs ausreichend gewesen war.
Die Dokumente aus der unmittelbaren Nachkriegszeit lassen ahnen, dass es insbesondere für die Vertriebenen ein „Kampf um ’s Ãœberleben“ war, geprägt auch durch viele Auseinandersetzungen mit Einheimischen. Diese lebten teilweise selbst in ärmlichen Verhältnissen, hatten aber gegenüber den Vertriebenen den Vorteil eines eigenen Daches über dem Kopf und Nutzlandes für die Eigenversorgung.
1) Vgl. Schneider, Ulrich: Britische Besatzungspolitik 1945, Dissertation Hannover 1980, S. 170f
2) Brieden, Hubert u.a.: Neustadt 1945 – 1949, Neustadt 1987, S. 220
3) Kreisarchiv Hannover, 735, hier: Resolution des Kreistages Neustadt a. Rbge. vom 12.7.1946; abgedruckt bei Brieden, S. 223f
4) Kreisarchiv Hannover, hier: Amtsblatt für den Kreis Neustadt a. Rbge. Nr. 21/12.7.1946; abgedruckt a.a.O.S. 224
5) Kreisarchiv Hannover, Amtsblatt für den Kreis Neustadt a. Rbge. Nr. 39/26.9.1947; abgedruckt bei Brieden, S. 225f
6) Kreisarchiv Hannover, Amtsblatt für den Kreis Neustadt a. Rbge. Nr.43/13.12.1946; abgedruckt bei Brieden, S. 228