Arbeitslosigkeit

Fremde Heimat – Vertriebene in einer ländlich strukturierten Region. Erinnerungen von Ursula Ramm und Magdalena Staab. Moderation: Ingeborg Koslowski
Neustadt 11. Juni 2015 (von links: Ursula Ramm. Ingeborg Koslowski, Magdalena Staab)

 

Ingeborg Koslowski:
“Zahlen sprechen eine harte Sprache“ heißt die Ãœberschrift eines Zeitungsartikels im Leine Anzeiger vom 10.12.1949: „Am 1.10.1949 befinden sich 35.285 Menschen mehr im gesamten Kreisgebiet, für die Stadt Neustadt selbst bedeutet das fast eine Zunahme von 100 % Neubürgern.
Was bedeutet das? Wo einstmals eine Person lebte sind es jetzt 2. Aber wo ist der 2. Arbeitsplatz ? Der 2. Schraubstock, die Hobelbank, die Schreibmaschine, der 2. Ackermorgen, die zweite Dienststelle ?“ Alle Angestellten und Arbeiter litten in den ersten Jahren unter dem Stellenmangel, die Flüchtlinge und Vertriebenen waren jedoch von der Arbeitslosigkeit stärker betroffen als die Einheimischen.
In der Statistik des Bundesministeriums von 1950 wird festgestellt, dass die Arbeitslosigkeit in jenen Gebieten der Bundesrepublik um so höher sei, je mehr Vertriebene und Flüchtlinge von jenseits der Oder-Neiße-Linie dort aufzunehmen gewesen seien. Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht (1950) eine völlige Fehlleistung, wird hier beklagt. Während der Gesamtanteil der Neuankömmlinge rd. 17 % der Bevölkerung ausmache, würde der Anteil der Vertriebenen/Flüchtlinge an der Arbeitslosigkeit im damaligen Bundesgebiet ca.40 % betragen.25)
In den ländlich geprägten Gebieten fehlten überwiegend die gewerblichen Arbeitsplätze, Straßen, Brücken, Schienen waren oft zerstört. Durch die später einsetzende Umsiedlungspolitik versuchte man die gravierendsten Probleme zu lösen.
Der Arbeitsamtsbezirk Nienburg wies am 1.10.49 eine Arbeitslosenrate von 15.7 % aus.26)
In der Leine Zeitung vom 13.12.1949: Im Dezember 1949 sei es endlich gelungen in Neustadt eine Bus-Verkehrslinie Rodewald – Hannover über Neustadt aufzubauen. Während Ende 1946 für diese Strecke nur 3 Fahrzeuge monatlich 8.600 Fahrgäste hätten befördern können, könnten heute 5 Postbusse 35.000 Fahrgäste im Monat befördern. Jeder Ort im Nordkreis rechts und links der Leine sei nun erreichbar. Neben den Berufstätigen stellten Schüler und Schülerinnen einen Großteil der Fahrgäste.
In der Leine Zeitung heißt es weiter dazu, dass auch Nichteingeweihte sich wohl vorstellen könnten, was es für den Fahrer bedeutete, wenn er entsprechend der Anweisung Bittende, die nicht mehr einsteigen konnten, abzulehnen hätte.
In ländlichen Gebieten gab es wenige Arbeitsplätze, die Möglichkeiten auswärts eine Arbeit aufzunehmen war lange Zeit kaum möglich, wie wir wissen.
Ingeborg Koslowski:
Ursula: Deine Mutter musste jedoch sofort eine Arbeit finden um an die begehrten Lebensmittelmarken zu kommen. Wie ist die Situation der Arbeitssuche bei euch gewesen? Hat deine Mutter schnellstens eine Arbeit finden können ?

Ursula Ramm:
In ihren erlernten und ausgeübten Berufen war es nicht möglich, eine Anstellung zu finden, jede angebotene, berufsfremde Arbeit musste angenommen werden, um Lebensmittelmarken zu erhalten.
Einige Beispiele sind:
Meine Mutter war in der ersten Zeit als Reinemachfrau bei der Kreisverwaltung beschäftigt. Erst 1949 fand sie wieder im erlernten Beruf als Kinderpflegerin eine Anstellung im Kindergarten der AWO in Neustadt, Suttorfer Straße.
Mein Onkel war Leiter der Stoffabteilung der großen Tuchfabrik Maue in Seidenberg; hier arbeitete er jahrelang als Heizer im Fliegerhorst Wunstorf.
Meine Tante war Büroangestellte; hier arbeitete sie als Hilfe in einem englischen Haushalt – Fliegerhorst Wunstorf

Die Arbeitslosigkeit nahm immer weiter zu, sie stieg von Woche zu Woche. In der Bevölkerung herrscht große Verbitterung. 1950 gab es 430.000 Arbeitslose in Niedersachsen.

Ingeborg Koslowski:
Magdalena, dein Vater ist vom Hofeigner ins berufliche Nichts gefallen. Wie hat er diese Situation gemeistert ?

Magdalena Staab:
Vater, der in Schlesien Hofeigner und ausgebildeter Landwirt war, verdingte sich bei Neustädter Bauern im Tagelohn oder als Saisonarbeiter gegen Naturalien und als Hilfsarbeiter auf dem Bau gegen Geld.
Zwangsbewirtschaftete Lebensmittel und Dinge aber waren dafür vor der Währungsreform nicht zu bekommen.

Das beweisen Anträge, z. B. des Kindergartens um eine Glühbirne oder der der örtlichen Hebamme, die mit einem Moped über Land fuhr, um ein Paar Ãœberschuhe.

Vater war ohne berufliche Perspektive. Nierenkoliken quälten ihn. Was sollte werden? Die Situation war existenzbedrohend.
Lange nährten Vertriebenenverbände und Politiker falsche Hoffnungen auf ein Zurück in die Heimat und behinderten damit das Einleben.
1948 fand mein Vater als Giessereihilfsarbeiter bei der Maschinenfabrik Schlüter eine Arbeitsstelle und blieb dort bis zum Ende seines Arbeitslebens.

Es gibt den Begriff des „Unterschichtungsphänomens“: Bei allen Einwanderungsprozessen ist zu beobachten, dass zunächst oder dauerhaft im Vergleich zur beruflichen Qualifikation statusniedere Arbeit und dementsprechend niedrigere Entlohnungen hingenommen werden mussten.
Der Status- und Einkommensverlust wurde oft erst in der 2. Generation ausgeglichen. Deshalb hatte der Satz in Flüchtlingsfamilien oberste Priorität: „Lernt etwas, das kann euch keiner mehr nehmen“.

25) Quelle: Herausgeber Bundesministerium für Arbeit, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1946-1950, Bonn 1950

26) Quelle: ebenda Hrsg. Bundesministeriums für Arbeit, Bonn 1950