Vertreibung, Transport Ankunft

Fremde Heimat – Vertriebene in einer ländlich strukturierten Region. Erinnerungen von Ursula Ramm und Magdalena Staab. Moderation: Ingeborg Koslowski
Neustadt 11. Juni 2015 (von links: Ursula Ramm. Ingeborg Koslowski, Magdalena Staab)

Ingeborg Koslowski:
Guten Abend ! Ich heiße Sie hier ganz herzlich willkommen.
Wir sind heute zu einem Gespräch zusammen gekommen, zu einem Gespräch zwischen zwei Neustädterinnen, die als Neuankömmlinge in der Fremde über ihre damalige Situation, über all die Schwierigkeiten und Probleme berichten werden, auch um sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Bomben waren während des Krieges zumeist nur auf Städte gefallen. Ländliche Gebiete blieben weitestgehend verschont, was kein humanes Anliegen war, sondern sich mehr oder weniger ökonomisch erklärte: Teure Bomben sollten vor allem strategisch wichtige Industriegebiete treffen.

Das niedersächsische Gebiet als großes Flächenland mit wenigen städtischen Zentren hatte besonders großen Anteil an ankommenden Flüchtlingstransporten. Im Jahre 1950 hatte die Bevölkerung im Kreis Neustadt im Verhältnis von 1939 um 83,4 % zugenommen.9)

Die Flüchtlinge im Raum Hannover kamen überwiegend aus Schlesien 50,4 %; Pommern 20,1 %, Ostpreußen 15,3 %.10)

Im Potsdamer Abkommen vom August 1945 hatten die Siegermächte die politische und geografische Neuordnung Deutschlands festgeschrieben. Darin wurde die millionenfache Vertreibung Deutscher als Folge des verlorenen 2. Weltkrieges und die Wiedergutmachung an Ost- und Südeuropa vereinbart.
Die Ãœberführung sollte in „ordnungsmäßiger und humaner Weise erfolgen“.
Douglas spricht von der „größten Zwangsumsiedlung der Menschheitsgeschichte“.11)

Der Empfang der Fremdlinge aus den Ostgebieten war oft alles andere als herzlich. Menschen verschiedener Kulturen prallten aufeinander. Das musste Konfliktherde schaffen. Die Neuankömmlinge hatten noch einen jahrelangen Kampf gegen den sozialen Abstieg vor sich. Sie wurden als hergelaufenes Gesindel und Polacken beschimpft. Auch die Seelsorge machte da nicht immer eine Ausnahme, wie wir bei Stefan Aust, Stephan Burgdorff lesen : ich zitiere: Flüchtlinge als Landplage – sie kämen „wie die Kartoffelkäfer“ stichelte der Pfarrer im niedersächsischen Wunstorf…12)

Ursula, du warst bei deiner Ankunft hier in Neustadt bereits 17 Jahre. Im Potsdamer Abkommen wird von einer „ordnungsgemäßen und humanen Weise der Ãœberführung“ gesprochen. Wie hast du den damaligen Abtransport aus der Heimat und die Ankunft hier empfunden, was hast du noch in der Erinnerung ?

Ursula Ramm:

In Seidenberg fand am 5. Juli 1946 um 6.00 Uhr morgens die Bekanntgabe statt, dass wir Deutschen uns um 8 Uhr auf dem Marktplatz mit Gepäck einzufinden haben.

Wir durften mitnehmen: Für 14 Tage Verpflegung; zwei Anzüge; Wäsche zum Umziehen; 50 Mark in Banknoten; Trauring; ein Bettbezug mit Bett oder zwei Decken; ein Kochtopf pro Familie; Messer, Gabel, Löffel,Teelöffel; zwei Essteller; ein Trinkbecher; ein Wassereimer auch pro Familie.

Unter großer Hitze mussten wir bis Mittag auf den Abtransport warten. Dann begann ein 10 km langer Fußmarsch nach Schönberg. Dort wurden wir in Güterwagen verladen und die Fahrt ging bis nach Marklissa in ein Lager. Das Ausladen musste unter polnischer Aufsicht schnell gehen. In dem Durchgangslager erfolgte die Registrierung und Gepäckdurchsuchung.

Am nächsten Tag erfolgte die Weiterfahrt. An der Grenze zur sowjetisch besetzten Zone wurde der Transport den Engländern übergeben, denn das Endziel war die Stadt Uelzen in der britischen Zone. Hier gab es eine gute Verpflegung und auch ärztliche Betreuung.

Am nächsten Tag erfolgte die Weiterfahrt und endete in den späten Morgenstunden in Wunstorf. Es war ein herrlicher Sonnentag, der 10. Juli 1946, als in den Bahnhof Wunstorf ein Güterzug einfuhr, der aus 60 Waggons bestand und in jedem Waggon sich 30-40 Menschen mit ihren Gepäckstücken, Betten und Kinderwagen befanden. Es waren Bewohner aus der Stadt Seidenberg O.L., ihren umliegenden Dörfern und der Nachbarstadt Marklissa.

Es verstrich eine lange Zeit, bis sich die Waggons leerten und die Angekommenen auf Lastwagen steigen konnten, die sie nach Neustadt und in die umliegenden Dörfer brachten. Nur wenige der Vertriebenen erhielten ein Privatquartier, die Unterbringung erfolgte in erster Linie in Massenquartieren. In Neustadt war es die Alte Schule, der Saal im Gemeindehaus und in Baracken in der Feld- und Wunstorfer Straße.
In den ersten Tagen sorgte das Rote Kreuz für warmen Kaffee und warmes Essen.

Tagebuchaufzeichnungen einer Stubenbewohnerin im Massenquartier berichten:
„10. Juli 1946. Früh Weiterfahrt nach Wunstorf, wo wir gegen 10 Uhr eintreffen. Hier ausladen, was sich bis Nachmittag 5 Uhr hinzieht, unter drückender Hitze. Dann wieder verladen in Lastautos, wo wir in verschiedene Richtungen verteilt werden, aber alle in naheliegende Dörfer von Neustadt. Wir selbst werden in einer alten Schule hier in Neustadt am Rübenberge im Massenlager untergebracht, wir sind 30 Personen in unserer Stube und liegen auf Stroh wie die Heringe.

11. Juli 1946. Die Neustädter Leute sind ganz stur, benehmen sich uns gegenüber ganz abweisend. Wir sollen eigentlich alle privat unter-gebracht werden, aber keiner will abgeben. Wir können uns nicht mal warmes Wasser machen. Essen und Kaffee bekommen wir von der Gemeinschaftsverpflegung. In unserm Raum haben wir weder Tisch noch Stuhl, alles muß auf dem Fußboden gemacht werden.

12. Juli 1946. Wir bekommen das Essen jetzt aus einem Gasthaus, wo wir gleich essen können. Es ist eine Wohltat, an einem Tisch zu sitzen.

13. Juli 1946. Noch keine Aussicht auf ein Privatquartier.

14. Juli 1946. Wir gehen manchmal schwimmen, hier ist eine schöne Badeanstalt.
Diejenigen, die schon privat untergebracht sind, sind ganz unzufrieden, weil sie sich kaum bewegen dürfen und keine Kochgelegenheit haben, öfter kaum ein Möbelstück drin.“

Ingeborg Koslowski:
Magdalena, manches ist für uns heute kaum oder gar nicht nachvollziehbar. So auch teilweise der Umgang mit den Vertriebenen in den Durchgangslagern. Du hast mir von Erzählungen über Entlausungen berichtet…

Magdalena Staab:
Während am 2. Vertreibungstag in Kohlfurt (heute Wegliniec / PL) am 6. Juli 1946 die Seidenberger im Güterzug auf den Weitertransport warten und nur wussten, dass er sie in die britische Zone führen soll, wurden dem Neustädter Stadtdirektor vom Oberstadtdirektor, dem das Flüchtlingsamt untersteht, 500 Flüchtlinge avisiert. (Flüchtlinge und Vertriebene werden damals noch nicht unterschieden.)
Die Antwort des Stadtdirektor am 8. Juli 1945 ist eindeutig: ohne die Freigabe der von den britischen Besatzungsmacht beschlagnahmten, aber nicht genutzten Häuser oder Schulen, die erneut geschlossen werden müssten, um als Massenunterkünfte zu dienen, sei eine Aufnahme nicht möglich.

Die Furcht vor übertragbaren Krankheiten, wie z. B. durch Läuse Ausgelösten ist groß in diesen Jahren, die Mittel sind für heutige Verhältnisse unzumutbar.
Während des 5tägigen Transportes und mehrerer Registrierungen wurden die vertriebenen Seidenberger dreimal Entlausungsaktionen mit DDT-Pulverspritzen ausgesetzt (in Polen, der sowjetisch besetzten Zone und der britischen Zone).

In Neustadt angekommen, erwarten die (lt. Ratssitzungsprotokoll v.12. Juli 1946) „620 zugewiesenen Flüchtlinge“ zunächst vor allem Massenunterkünfte:
Sie befanden sich in der Stockhausen-Schule; im Rosenkrug; im ehemaligen Arbeitsdienstlager, Feldstrasse, heute Hans Böcklerstr., auch „Langer Jammer“genannt, (das zuvor als Arbeitsdienstlager diente): 243 Personen. In „Großmoor“: 105 Personen, Alte Schule (heute Pius); Fa. Marwede /Wunstorfer Strasse; und Unterkünfte in den Dörfern.
Wohnraumbeschaffung muss mühsam um- und durchgesetzt werden, damit die Massenquartiere aufgehoben werden können, vor allem die in den Schulen.

Die Massenunterkunft Stockhausenschule wurde nach etwa 4 Wochen aufgelöst und die Schule stand zum Ende der Sommerferien wieder für den Schulbetrieb zur Verfügung.
Die 150 bis 200 Seidenberger, die dort auf Stroh genächtigt hatten, waren inzwischen in private Haushalte zwangseingewiesen worden.
In einem Konferenz-Protokoll der Stockhausen-Schule vom 18. April 1947 findet sich eine Bemerkung, dass das Rauchen der Lehrkräfte in den Pausen eingeschränkt werden solle, um den Schülern ein gutes Beispiel zu geben.
Der Neustädter Manfred Moldenhauer erinnert sich, dass er den Zigarettenrauch als Schüler gern gerochen hat. Es sei so ein menschlicher Geruch gewesen.
Damals wurden öffentliche Räume und die Räume der Massenquartiere täglich mit petroleumhaltigen Lysol desinfiziert und hinterließen einen giftigen Eindruck.

8) zitiert nach Hartmut Dyck, Barackenlager nach 1945

9) Quelle: Uelschen, G.: Die Bevölkerung Niedersachsens 1821-1961, Hannover 1966, S.2f.

10) Quelle: Krug, M., Mundhenke, K.: Flüchtlinge im Raum Hannover und in der Stadt Hameln 1945-1952, Hildesheim 1988, S.15

11) Quelle: Douglas, R.M., Ordnungsgemäße Ãœberführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, 2. Auflg. München 2012, S. 17

12) Quelle: Aust, S., Burgdorff, S. (Hrsg.): Die Flucht, Bonn 2005, S. 249