800 Jahre Neustadt

Mit einer großen Historischen Ausstellung im Schloß und zahlreichen Veranstaltungen – auch von uns – wurde 2015 das Jubiläum gefeiert.

Dabei wurde auch nach dem Alter unserer Dörfer gefragt.

Wir haben die mehrfach gezeigten Ausstellung „Ansichten von Neustadt. Eine Ausstellung von den Anfängen bis in die 1990er Jahre“ mit dem AK Regionalgeschichte erstellt.

Wir berichten über mehrere Stadtteile Neustadts:  Averhoy, Basse, Empede, Metel, Scharrel, Scharnhorst, Suttorf, Mariensee sowie Ohlendorf und Hoher Hof, zwei Wüstungen bei Basse

Einen guten Ãœberblick bringt die

Rede von Bürgermeister Uwe Sternbeck beim Empfang der Stadt Neustadt im Schloss Landestrost am 10. September 2015

Geschichte und Zukunft waren in Neustadt am Rübenberge selten so nahe beisammen wie in diesem Jahr:

Wir freuen uns einerseits über den ältesten historischen Nachweis der Kernstadt, von Schneeren, Scharrel, Otternhagen, Büren und Borstel. Noch nie gab es so viele Längsschnitte durch unsere Geschichte, wie sie die Dorfchroniken und die Ausstellungen der Geschichtswerkstatt, des Arbeitskreises Regionalgeschichte und des Regionsarchivs erlauben.
Und unser historisches Erbe ist umfassender geworden. Die Hexenprozesse und die Verfolgung von Juden und Andersdenkenden in der NS-Zeit sind nicht vergessen. Die große, große Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen, die wir derzeit in unserer Stadt erleben dürfen, zeigt überdeutlich, dass wir fähig sind, aus unserer Geschichte zu lernen. Dass wir unsere Gesellschaft Stück für Stück ein bisschen besser, menschlicher machen können.
Zum anderen, und darüber freue ich mich besonders, erleben wir zurzeit viel Eigeninitiative und Aktivitäten in den 33 Stadtteilen und erkennbare Umbrüche in der Kernstadt. Als bestes Beispiel können hier Wulfelade und Dudensen dienen: Die beiden Dörfer haben es beim Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ ins Landesfinale geschafft, gestern war die Wertungskommission zu Gast. Herr Zieseniß, Herr Falldorf – richten Sie bitte aus: Wir drücken die Daumen!

Ich danke den Aktiven und den Bürgerinnen und Bürgern, die im Vorder- und Hintergrund mithelfen, das Neustädter Land schöner zu machen, fit für die Zukunft.

Lassen Sie mich kurz auf vergangene Umwälzungen eingehen, die Neustadt bis heute prägen.
Im Königreich Hannover kam es im 19. Jahrhundert zu großen Umbrüchen. 1750 war die Brandkasse eingeführt worden. Aus dieser Zeit stammen die Hofnummern, die vielerorts immer noch verwendet werden.
Um 1830 dann begannen die Agrarreformen, die die Landwirtschaft produktiver machen sollten – ein immer wiederkehrendes Thema. Dazu gehörten damals mehrere Elemente.

Mit der Ablösung kauften sich die Bauern von der persönlichen Abhängigkeit von ihrem Gutsherren frei. Land konnte jetzt auch verkauft werden.
Die Verkoppelung und Gemeinheitsteilung sortierte den Landbesitz neu: eine Flurbereinigung, zunächst zwischen den Dörfern und danach zwischen den Dorfbewohnern. Die verstreut liegenden und oft kleinen Parzellen der Bauern wurden zusammengelegt.
Zur Finanzierung der Maßnahmen wurde eine Landeskreditanstalt gegründet.
Die Folgen der Reformen waren handfest, aber nicht unbedingt positiv: Bei der Aufteilung der Gemeinheiten gingen die Kleinstbauern leer aus, und die Dorfhirten wurden arbeitslos. Trotzdem wurden Erben neue kleine Hofstellen bewilligt, waren aber nicht auskömmlich. Die Ablösungszahlung und – bei Hofübernahmen – die Abfindung der Geschwister führten zu Verschuldung und Landverkauf. Zudem wuchs die Bevölkerung seit der Jahrhundertwende stärker als die beginnende Industrialisierung Arbeitskräfte brauchte.

In der Folge bildete sich eine neue Sozialstruktur. Eine neue, breite Armutsschicht entstand in vielen Dörfern. Bisher nicht gekannte Menschenströme setzten sich in Bewegung, auf der Suche nach einem wirtschaftlichen Auskommen, nach einem besseren Leben – ein aktuelles Thema.
Die Auswanderung aus dem Neustädter Land hatte im 19. Jahrhundert einen erheblichen Umfang und nahm mit dem Bau der Eisenbahnlinie nach Bremen noch zu.
Die Geschichtswerkstatt Neustadt arbeitet am Thema Auswanderung. Eine quantitative Analyse der Neustädter Dörfer steht noch aus. Stichproben ergeben aber, dass bis zu ein Drittel der Dorfbevölkerung auswanderte. Viele ins gelobte Land, nach Amerika, viele aber auch innerhalb Deutschlands in die wachsenden Großstädte.

Ein weiterer Bezug zu unserer Gegenwart: Die Regulierung der Menschenströme misslang. Die sogenannte Domizilverordnung sollte sicherstellen, dass die „Heimatgemeinde“ für ihre Dorfarmen aufkommt. Aber immer mehr Menschen versuchten andernorts ihr Glück – oder mussten es.

So wie Sophia Freckmann aus Metel.
Sie wurde 1812 geboren und stammt aus einer Familie von Förstern im Raum Hannover, Deister und Weserbergland. Förster wurden damals schlechter bezahlt als heutzutage. In Sophias Familie war die Armut zu Hause.

Die Akte im Landesarchiv1) fasst zusammen: Ihre Auswanderung erfolgte

„auf öffentliche Kosten; früh bestraft mit 6 Monaten Zuchthaus wegen mehrerer kleiner Hausdiebstähle; danach vagabundierende Lebensweise; mehrfach ihre Dienstherren verlassen, da sie angeblich zu viel arbeiten muß; prügelt den Kuhjungen im Dienst des Anbauern Mehlwitz; verläßt zuletzt den Dienst des Schmieds Nebel, Friedrich; danach Arbeitshaus wegen der Vagabundage“.

Die Gemeinde Metel konnte ihr nicht zu einem eigenen Lebensunterhalt verhelfen. 1834 suchte sie ihren Onkel, den Förster Carl Freckmann in Nienstedt auf. Doch der war weder willens noch verpflichtet, für seine Nichte zu sorgen. Sophias Vormund Heinrich Stünkel in Metel erklärte sich außerstande, ihr ein Unterkommen zu verschaffen.

Als Sophia im Arbeitshaus einsaß, legte ihr das Amt Neustadt eindrücklich nahe, sich nach Amerika verschiffen zu lassen.

Im Juli 1835 erreichte sie auf der „Phoenix“ die US-Küstenstadt Baltimore. Auch Nöpker Einwohner wurden regelrecht nach Amerika abgeschoben. Zehn bis zu 20 Prozent der eigenen Bevölkerung erhielten das Etikett Vagabunden. „Ausländer“ wie aus dem hinter Steinhude beginnenden Hessen waren kaum darunter.
Ich blicke noch einmal ohne die sozialromantische Brille auf die heute so schmucken Dörfer des Neustädter Landes.

Die Menschen lebten auf engstem Raum in den Fachwerkhäusern, später auch in schlichten Backsteinhäusern. Sie arbeiteten hart, bei Wind und Wetter. In der Erntezeit arbeiteten auch die Kinder, anstatt zur Schule zu gehen. Komfort war gleich im doppelten Sinn ein Fremdwort.

Seuchen, Feuer, Missernten oder Hagelschlag brachten ganze Dörfer in Not. Daher wurde heftig gestritten, wenn Bienenvölker entflogen, Uferstücke der Leine abrissen oder sich neue Inseln im Fluss bildeten. Die Pächter der Erbzinsmühlen lagen im Dauerstreit mit den Ämtern, die Förster in landeseigenen Forsten kämpften stets um die knappen Deputate.
Befestigte Straßen waren Kies- oder Flusssteinwege und immer ein Kraftakt für die Gemeinden. Für die Benutzung der Chaussee Hannover – Nienburg wurde Wegegeld erhoben. Gleichzeitig gab es „E plus 1“ bei der Post: Schreiben des Amtes oder Gerichtes erreichten am Tag nach der Ausfertigung noch die entlegensten Dörfer des heutigen Neustadt.

Mancher Kleinbauer verdiente auch als Hockenhändler oder Schneider sein Brot. Vom Helstorfer Schmied Frerking wissen wir, dass er in erheblichem Umfang Sachen transportierte oder für andere Landwirte arbeitete.

Heute erleben wir wieder eine Landflucht, wenn auch aus anderen Gründen. Der demografische Wandel bringt Dörfer in Existenznot. Im Neustädter Land wird auch heute über die Verteilung von Ressourcen gestritten – allerdings auf einem ganz anderen Niveau als vor 200 Jahren.

Nach 1945 erlebten Westdeutschland und auch das Neustädter Land neue Menschenströme. Und auch hier muss man genau hinsehen. Denn unter den Flüchtlingen waren auch Ingenieure, Ärzte, eine Opernsängerin – in unseren Dörfern seltene bis nie gekannte Berufsgruppen. Viele der Flüchtlinge, anfangs argwöhnisch beäugt oder offen abgelehnt, blieben für immer. Sie brachten ihre eigenen Ideen und Vorstellungen vom gesellschaftlichen Miteinander mit und bereicherten die Dörfer nachhaltig.
Ein weiterer Schnitt war die Gebietsreform vor 40 Jahren. Die neue Stadt Neustadt am Rübenberge gehört auch heute noch zu den flächengrößten der alten Bundesrepublik. Es brauchte viele Jahre Zeit, bis Vorbehalte gegen „die da in Neustadt“ abgebaut wurden und bis ein neues Neustadt-Gefühl gewachsen war. Bis heute ist das noch zu spüren.

Aber ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder feststellen können, und am Festwochenende werden wir es erleben, dass die meisten Menschen von uns Neustädter sind – Neustädter UND Bürener, Bordenauer, Schneerener. Kooperationen wie im Mühlenfelder Land zeigen, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit meistern können, wenn wir miteinander arbeiten. Wenn wir zusammenstehen.
Ich freue mich sehr, hier heute Abend so viele Gesichter aus dem ganzen Neustädter Land zu sehen. Menschen, die sich für ihren Stadtteil und für unsere Stadt engagieren, Neustadt am Rübenberge zu einem solch lebens- und liebenswerten Flecken machen. Wie Sie wissen, bin ich selbst ein Zugezogener. Heute kann ich voller Ãœberzeugung sagen: Hier, zwischen Meer und Moor, im Land an der Leine, zwischen Storchennestern, Windmühlen und endlosen Feldern, hier bin ich zu Hause.

Neustadt und seine Menschen haben so viele Herausforderungen gemeistert, meine Damen um die Herren. Das ist mir um die Zukunft unserer Stadt nicht bange.

Und nun: Feiern Sie! Ein ganzes Wochenende! Feiern Sie 800 Jahre Neustadt am Rübenberge, feiern Sie das Neustädter Land! Viel Spaß!


Fragen gerne an Hans-Heinrich Bückmann M.A., info@geschichtswerkstatt-neustadt.de oder Telefon (05032)63803.

Infos auch hier, hier und ausführlicher bei Wikipedia.

1) HStAH, Hann 74 Neustadt/Rbg. Nr. 1453