Fremde Heimat – Vertriebene in einer ländlich strukturierten Region. Erinnerungen von Ursula Ramm und Magdalena Staab. Moderation: Ingeborg Koslowski
Neustadt 11. Juni 2015 (von links: Ursula Ramm. Ingeborg Koslowski, Magdalena Staab)
Im Leine Anzeiger vom 22.12.1949 finden wir eine ausführliche Darstellung der Schulproblematik der damaligen Zeit; ein Artikel verfasst von Dr. Müller, Kreisschulrat. Unter dem Titel „Schulsorgen im Kreise Neustadt“ wird ausführlich die Lehrer- und die Schulraumnot beklagt.
Ich zitiere „Wie so viele Gebiete des öffentlichen Lebens so steht auch das Schulwesen in unserer Zeit im Zeichen der allgemeinen Not. Der Kreis Neustadt am Rübenberge ist ein getreues Spiegelbild der Zustände in der ganzen Zone.“
Weiter heißt es. Im Kreis Neustadt besuchten zur Zeit (ohne die höheren Schulen) 1240 Kinder die Schule. Von ihnen seien 48,4 % Flüchtlinge und Evakuierte. ( Der Bundesdurchschnitt lag 1950 übrigens bei 70,3 % bei den Volksschülern – Bundesministerium für Arbeit, Bonn 1950 ) Für 66 Kinder stünde eine Lehrkraft zur Verfügung. Daher müsse der Unterricht stark eingeschränkt werden.
In den Mittelschulen komme auf eine Lehrkraft 43 Schüler. Damit wäre auch bei vollem Einsatz jedes einzelnen Lehrers ein Bildungsabstieg unvermeidlich. Zusätzlich gäbe es hier sogar Gemeinden, in denen für 105 Kinder nur 1 Lehrer zur Verfügung stünde. “An der Jugend zu sparen erweist der Zukunft einen schlechten Dienst“ heißt es weiter. Und ähnlich unbefriedigend seien die Verhältnisse bei der Unterbringung der Kinder in den Schulen. Im Durchschnitt stünde für 92 Kinder ein Unterrichtsraum zur Verfügung, der auch oft noch behelfsmäßig sei. Der erforderliche Nachmittagsunterricht könne aber niemals der „Vormittagsarbeit an Fruchtbarkeit gleichkommen“ Positiv zu vermerken sei allerdings , dass inzwischen wieder Schulbücher für beinahe alle Fächer, wenn auch zu fast unerschwinglichen Preisen, vorhanden seien und dass nicht zuletzt aufgrund der Schulspeisung die Kinder wieder durchweg ausreichend ernährt werden könnten.
Ähnlich schlimm war jedoch damals auch die Lage der Berufsschulen in Neustadt. 1949 anlässlich eines Besuches des Ministers für Gesundheit und Arbeit, Alfred Kubel, schreibt der Leine Anzeiger einen Artikel mit der Ãœberschrift „ Wachsende Schule ohne Raum“.
Alfred Kubel kritisierte hier scharf die Berufsschulsituation in Neustadt. 1000 Jugendliche im Kreise Neustadt „erwarteten von ihrer letzten Pflichtschule geistiges Rüstzeug für Beruf und Leben. Sie wollen und sollen im Wechsel der Generationen künftig Mitträger der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens sein.
Wenn jedoch 30 Klassen der gewerblichen und kaufmännischen Berufsschule seit nun fast mehr als einem Jahr auf ständiger Wanderschaft seien, weil die altehrwürdige Schule „Mädchen für alles sei“, Jugendheim und Jugendherberge, Arbeitsamt und Lohnberechnungsstelle, könne ein Kind des deutschen Schulwesens für Beruf und Leben kaum vorbereitet werden.“ 27)
Eine statistische Zahl – wen es interessiert: 1950 waren insgesamt 1.583.838 Schüler und Studierende als Heimatvertriebene in der Bundesrepublik aufgenommen worden.28)
Ursula, du hattest in deiner Heimat bereits eine sehr gute Schulausbildung genossen. Wie hast du die damalige Schulsituation hier in Neustadt nach dem Kriege erlebt, was kannst du uns über deinen weiteren Werdegang berichten ? Fühltest du dich anderen Schülern gegenüber benachteiligt ? War es möglich an Lehrmaterial zu kommen ?
Ursula Ramm:
Nur eine geringe Anzahl von Jugendlichen konnte eine weiterführende Schulausbildung abschließen. Sie waren in entlegeneren Dörfern untergebracht. Die mangelnden Verkehrsverbindungen und kein Fahrrad zu besitzen, waren oft der Grund. Nach der Währungsreform waren Fahrräder zu teuer.
Auch die schulische und berufliche Betreuung gehörte zu dem Aufgabenbereich des Flüchtlingsamtes. Es gab Anträge zur Schulgeld-, Fahrgeld- und Lernmittelermäßigung. Nach der Währungsreform 1948 mit der verbundenen Geldentwertung waren die Anträge von großer Wichtigkeit, bildeten sie doch gleichzeitig die Gewähr für einen Schulabschluss.
Diejenigen, die in Neustadt untergebracht waren, hatten die Möglichkeit, ihre Schulausbildung fortzusetzen und abzuschließen. Aber Flucht und Vertreibung waren oft der Grund für eine 2jährige Verzögerung und Mangel an Schulbüchern.
Mein Schulweg vom Schloss Landestrost zur hiesigen Mittelschule war nicht weit. So schaffte ich im März 1947 den Abschluss „Mittlere Reife“.
Es war sehr schwierig den Abschluss zu erlangen. Seit Januar 1945 war der Schulbesuch bis November 1946 unterbrochen, denn Flucht und Vertreibung lagen dazwischen. Es waren keine Schulbücher und Nachschlagewerke im Besitz und lange Texte mussten aus geliehenen Schulbüchern abgeschrieben werden.
Private Kontakte zu den einheimischen Mitschülern gab es nicht. Erst kurz vor der Prüfung bahnte sich eine Freundschaft mit einer Mitschülerin, einer „Einheimischen“ an, und es wurden in den Wochen vor der Prüfung gemeinsam Schularbeiten erledigt.
Es gab Beobachtungen, dass es Einigen gelang, die Benotung zu verbessern, wenn sie den Lehrkräften Lebensmittel mitbrachten. Das konnten wir Vertriebene nicht.
Meine Mutter war ja als Reinemachfrau beim Landratsamt beschäftigt und ich half ihr dabei. Da suchte ich jedesmal aus den Papierkörben die noch nicht beschriebenen Seiten heraus und bastelte daraus mein Schulheft selbst. Denn so etwas gab es damals noch nicht.
Das Angebot von Lehrstellen (Ausbildungsplätzen) war sehr eingeschränkt.
Ich selbst hatte das Glück, im Lecinwerk eine Lehrstelle als Chemie-Laborantin zu finden.
Ingeborg Koslowski:
Magdalena, bei dir war die Situation völlig anders. Du bist von klein an in das Kindergarten- und Schulsystem hineingewachsen. Kannst du uns deine Erinnerungen schildern ?
Magdalena Staab:
Aus der Chronik der katholischen Kirchengemeinde geht hervor, dass im Juli 1946 zwei evakuierte Ordensschwestern nach Neustadt kamen.
Die Engländer hatten zu dieser Zeit den städtischen Kindergarten am Schützenplatz beschlagnahmt. Die Stadtverwaltung bat den katholischen Pfarrer, vorübergehend im Gemeindehaus der Kirche an der Wunstorferstraße eine Kindergartengruppe einzurichten.
Dort bin ich mit vielen „einheimischen“ Kindern Kindergartenkind gewesen.
Kurios war eine Entdeckung in einem Nebengebäude der Kirche. Beim Herumstöbern öffneten wir einen Raum, der bis unter die Decke mit Sandalen und Stöckelschuhen gefüllt war: eine Hilfslieferung aus Amerika, wie wir erfuhren.
Am 4. November 1949 verließen die Ordensschwestern Neustadt wieder. Der städtische Kindergarten „Am Schützenplatz“ wurde wieder freigegeben.
Ostern 1951 wurde ich mit 90 Kindern in die Stockhausenschule eingeschult.
Aus dem Konferenzprotokoll vom 12. April geht hervor, dass nun 1057 Kinder (507 Mädchen und 550 Jungen) die Schule besuchten. Ausgelegt war die Schule für 350 Schüler. Nun wurden auch die Bodenräume zu Klassenzimmern, was wir Kinder als abenteuerlich erlebten.
Im Konferenzprotokoll vom18. Okt. 1946 wird Schulrat Dr. Müller mit den Worten zitiert: „Eine Isolierung der Flüchtlingskinder kommt nicht in Frage, da diese sich vorbildlich in die Gemeinschaft der übrigen Kinder eingeordnet haben.“
Ich hatte gute Lehrer und meine Herkunft unterschied mich nicht von anderen Kindern. Die größte Freude für mich war, eigene neue Schulbücher zu bekommen. Das Lesebuch: „Die gute Saat“, hatte es mir besonders angetan. Die neuen Bücher wurden am Schuljahresbeginn sorgsam zur Schonung in Packpapier eingeschlagen.
Dankbar bin ich bis heute meinem ersten Klassenlehrer, Wilhelm Kallmeyer, und dem Musiklehrer, Friedrich Kunze, bei dem ich für 20 Pfennige einmal wöchentlich Flötenunterricht bekam.
Am 19. September 1957 vermerkt Frl. Corvinus in der Schulchronik, sei „zum ersten Mal ein ganztägiger offener Elternsprechtag angesetzt worden“. Die Sprechzeiten seien weit überschritten worden, vor allem abends seien viele Väter gekommen. Die Lehrkräfte zeigten sich hocherfreut. Von 725 Kinder kamen 485 Eltern. Auch mein Vater hatte den Sprechtag genutzt. Er kam nach Hause mit der Bemerkung, dass ich viel besser sein könne, wenn ich mir mehr Mühe gäbe.
27) Quelle: Leine Anzeiger vom 30.9.1949
28) Quelle: ebenda Herausgeber Bundesministerium für Arbeit, Bonn 1950